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- Gesundheitspolitik in Berlin
Nicht mal Zeit zu essen
Die Lage für Personal und Patienten in den Berliner Kinderkliniken hat sich massiv verschlechtert. Obwohl Krankenhäuser Ländersache sind, verweist die Hauptstadt auf den Bund
Die junge Kinderärztin ist sichtlich angespannt und nimmt kein Blatt vor den Mund. »Wir sind die, die auf Essenspausen verzichten und nicht auf die Toilette gehen«, erklärt Olga Staudacher. »Wir versorgen 20 Kinder auf Station. Wir rechtfertigen uns vor den Eltern. Wir sind auf der Rettungsstelle diejenigen, die Kinder im Empfang nehmen, die eine Stunde durch die Stadt gefahren wurden, weil andere Rettungsstellen voll sind. Wir päppeln sie dann noch in der Rettungsstelle, weil wir keine Betten haben. Und wir sind die, die sagen müssen, dass die Kinder dann doch noch 20 Kilometer in eine andere Klinik gebracht werden müssen.«
Manchmal ist der Weg auch länger als 20 Kilometer - dann nämlich, wenn Kinder von Berlin aus in Brandenburger Krankenhäuser verlegt werden müssen, weil sie in den Kinderkliniken der Hauptstadt nicht angemessen versorgt werden können. Und sie verstärken die Personalnot. »Wir haben Verlegungen bis Frankfurt (Oder), Eberswalde, Nauen. Diese nehmen viel zu viel Zeit in Anspruch, die dann bei der adäquaten Versorgung fehlt«, ergänzt Beatrix Schmidt, Chefärztin am St. Joseph Krankenhaus in Tempelhof, die Ausführungen ihrer Kollegin. »Das Personal wird überflutet mit Aufgaben, für die es nicht zuständig ist.«
Das bestätigt auch der Chef der Intensivpädiatrie am Vivantes-Klinikum Neukölln, Rainer Rossi. »Händisches Telefonieren, ziemlich würdelos«, um kranke Kinder unterzubringen anstatt diese fachgerecht zu versorgen, verdeutliche ein »systematisches Problem in der Pädiatrie«. Benötigt werde unter anderem dringend ein elektronischer Bettennachweis.
Schmidt und Rossi unterstützen Assistenzärzt*innen wie Olga Staudacher. Gemeinsam mit anderen Kinderheilkundler*innen aus acht Berliner Krankenhäusern, darunter die Charité, die Vivantes-Kliniken Neukölln und Friedrichshain und das Tempelhofer St. Joseph, hatte sie die dramatische Lage in den Häusern zuletzt in einem Brandbrief an die Geschäftsführungen der Kliniken, Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne) und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) geschildert. Vor diesem Hintergrund sitzen die drei Mediziner*innen nun im Gesundheitsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses als anzuhörende Expert*innen.
Die Gründe für die Verschlechterung der Versorgung sind für die Mediziner*innen offensichtlich: »In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen in Berlin um 20 Prozent gestiegen«, erklärt Olga Staudacher. In der Hauptstadt leben demnach mehr als eine Million Menschen unter 18 Jahren, mit einer weiteren Steigerung um 15 Prozent in den nächsten zehn Jahren sei zu rechnen. »Die 6- bis 18-Jährigen sind die am stärksten wachsende Gruppe in der wachsenden Stadt«, so die Pädiatristin.
Bei der Anzahl der Betten in den entsprechenden Kliniken lässt sich diese Entwicklung allerdings nicht nachvollziehen. Um knappe 20 hat sich deren Zahl zwischen 2010 und 2021 von 753 auf 772 erhöht, wie die Antwort des Senats auf eine Schriftliche Anfrage des Linke-Abgeordneten Tobias Schulze es darlegt. Eine Erhöhung um 80 Plätze sei laut dem Berliner Krankenhausplan von 2020 vorgesehen. Sie entspreche dem prognostizierten Bedarf, heißt es weiter. Und zur Personalnot im Pflegebereich verweist man notgedrungen auf »Organisationshoheit« der Kliniken selbst, die die Planung gemäß der sogenannten Pflegepersonaluntergrenzen zu bewältigen haben.
Demnach kommen auf eine Pflegekraft maximal sechs Patient*innen am Tag und zehn in der Nacht. Von Verlegungen aufgrund fehlender Behandlungskapazitäten will man bei der zuständigen Senatsverwaltung für Gesundheit keine Kenntnis haben. Zur Frage nach einer möglichen Entlastung der Kinderrettungsstellen schlägt sie dennoch vor, die Anzahl der bisher fünf Notdienstpraxen für Kinder an Notdienstaufnahmen zu erweitern. Zum Aufbau fehlendes Pflegepersonals verweist man auf die generalistische Pflegeausbildung, von der man sich eine Linderung der Fachkräftenot verspricht.
Mehr Notdienstpraxen und mehr Stadtteilgesundheitszentren mit fächerübergreifender Versorgung stellten definitiv eine Entlastung dar, sagt auch Rainer Rossi. In der generalistischen Ausbildung sieht der Klinikleiter allerdings eine spezifische pädiatrische Qualifikation als unabdingbar an. Die Länder Hamburg und Baden-Württemberg hätten diesbezüglich einen »klügeren Umgang« gewählt: »Hier werden jährlich 100 pädiatrie-spezifische Ausbildungen abgeschlossen.«
Verbesserungen würden allerdings nicht am Problem des Ärzt*innen-Mangels in den Berliner Kliniken rütteln. Trotz steigenden Arbeitsaufwands werden Stellen nicht nachbesetzt oder sogar abgebaut. Olga Staudacher macht das fassungslos: »Ich bin sicher, wir könnten doppelt so viele Stellen besetzen«, erklärt sie. Berlin sei attraktiv und die Pädiatrie sei es auch, »aber die Bedingungen sind es nicht und deswegen kündigen Kolleg*innen«. Sie allein kenne drei, dazu komme der Abbau von vier Pädiatriestellen in einer ihr bekannten Berliner Klinik.
Während in der Pflege aufgrund der Überlastung vielfach Berufsflucht einsetzt, sieht sich das medizinische Personal mit Arbeitsverdichtung und mit von Wirtschaftlichkeitsdenken getriebenen Klinikleitungen konfrontiert. Ein bundesweites Problem. »Ich bin immer noch in der Ausbildung und vieles, was wir durch den praxisnahen Austausch mit Kolleg*innen lernen, fällt vollkommen weg. Als Fachärzt*innen werden wir ganz viel nicht können«, beschreibt Olga Staudacher die Auswirkungen auf ihren Berufsstand.
Dazu kommt: Die Berliner Kinder werden nicht gesünder. Denn dass Liegezeiten in den Krankenhäusern auch bei jungen Menschen verkürzt werden, ist weniger Ausdruck von schnelleren Heilungsprozessen.
Auch die Pandemie, so Staudacher, habe damit relativ wenig zu tun. Es brauche dringend einen gesetzlich festgelegten patientenbezogenen Personalschlüssel, wie er zuletzt im Tarifvertrag Entlastung für die Pflegekräfte an der Charité Aufnahme gefunden hat. Der herrschende spiegele nicht einmal den alljährlichen Anstieg der Infektionslage in den Wintermonaten wider.
»Wir haben mehr Bedarf«, betont auch Beatrix Schmidt. Die Kindermedizin sei schwieriger geworden, in einem kleinen Team »in Dauerhektik« viele Kinder versorgen, sei nicht gut zu schaffen. »Es werden mehr Kinder, es sind relativ viele geflüchtete Kinder darunter«, so Schmidt. Auch die Erkrankungen hätten sich verändert: »Wir haben viele Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und chronischen Erkrankungen, die aus sozial schwierigen oder schlechten Gefügen kommen.«
Zur Erinnerung: jedes dritte Kind in der Hauptstadt wächst in Armut auf. Der Versorgungsmangel manifestiert sich bereits lange, bevor medizinischer Bedarf besteht.
Auch Olga Staudacher nimmt diejenigen Kinder in den Blick, die durch ihre Fluchterfahrungen vor dem aktuellen Krieg in der Ukraine besonders belastet und bedürftig sind. »Die Kinder, die jetzt kommen, verschlimmern das Problem, sie brauchen viel Zeit«, es müsse auch übersetzt werden.
Der zeitliche Mehraufwand bei der Versorgung von Kindern: Er ist das Hauptargument vieler Kinderheilkundler*innen für eine schnelle Abschaffung des Fallpauschalen-Systems, das auch in der Pädiatrie Druck ausübt, lukrativeren Eingriffen vor den wirtschaftlich weniger einträglichen den Vorrang zu geben. Der Bund hat angekündigt, dies zu ändern.
Auch der Senat will sich nach eigenen Aussagen für eine schnelle Reform des sogenannten DRG-Systems einsetzen, fordert aber - wie die Brandbrief-Unterzeichner*innen auch, eine auskömmliche Finanzierung. Die aber ist Ländersache. Der aktuelle Haushaltsentwurf des rot-grün-roten Senats führt entgegen den Beteuerungen zu Regierungsbeginn aber im Hinblick auf die Kliniken offenbar die Sparpolitik fort, die bereits seit Jahren heftig kritisiert wird. Bei den Investitionen für die Krankenhäuser der Hauptstadt sind im Entwurf 200 Millionen Euro weniger Mittel vorgesehen, als die Berliner Krankenhausgesellschaft bereits als Bedarf nachgewiesen hat. Wie eine Ausfinanzierung der unter Investitionsstau ächzenden Kliniken so gelingen soll, bleibt ein Rätsel.
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