»Die Option Rot-Rot-Grün ist für ein Jahrzehnt dahin«

Die Linke-Vorsitzende Susanne Hennig-Wellsow und die Buchautorin Julia Fritzsche im Gespräch über Folgen des Ukraine-Krieges

  • Lesedauer: 8 Min.

Boris Kanzleiter: Der Krieg in der Ukraine wühlt uns alle auf. In der Debatte darüber ist viel von einer Zeitenwende die Rede. Ist das zutreffend, oder erleben wir eher eine Zuspitzung der vielen ineinandergreifenden Krisen des globalen Kapitalismus?

Julia Fritzsche: Es ist eine Zeitenwende für die Menschen in der Ukraine, die gerade Angehörige verlieren, selber schreckliche Dinge erleben. Das Leben wird nicht mehr so sein wie vorher. Über Generationen werden die Menschen traumatisiert sein. Es ist auch eine Zeitenwende für die Opposition in Russland, für die Menschen dort, die nichts mehr sagen dürfen oder schon eingesperrt sind. Und es ist eine krasse Zeitenwende für Länder wie Moldawien, wo so viele Flüchtende hinkommen, dass auch alle anderen Menschen krass betroffen sind.

Linke, Krieg und Frieden

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine stellt die Linke vor neue Fragen. Die Linkspartei und die gesellschaftliche Linke überhaupt. Nato, EU, Uno, Russland, Waffenlieferungen, Sanktionen – dies sind einige Stichworte eines Nachdenkens über bisherige Gewissheiten und neue Herausforderungen. Wir beginnen eine Debatte über »Linke, Krieg und Frieden«, die uns lange Zeit begleiten wird.

Zugleich gibt es viele Menschen, die schon erlebt haben, was Krieg bedeutet. Menschen aus Syrien oder aus dem Jemen. Ich habe in München am Hauptbahnhof geholfen, ukrainische Flüchtende in Empfang zu nehmen. Da kam ein junger Mann und fragte: Kann ich auch helfen? Er war 2015 aus Syrien genau dort angekommen.

Eine Zeitenwende gibt es auch, was unser Russland-Bild betrifft. Weil wir - und da meine ich nicht zuletzt mich selbst - nicht klar genug gesehen haben, wie stark der imperiale Drang ist. Obwohl es viele Anzeichen gab: Georgien, die Unterdrückung von Unabhängigkeitsbestrebungen in Tschetschenien, von Protesten in Kasachstan, die russischen Bomben auf Syrien. Bei vielen Linken hat die Kritik an der Nato den Blick auf Russland versperrt. Bei den Regierungen und Unternehmen waren es eher ökonomische Interessen, die den Blick auf Russland verstellt haben. Es entsteht vermutlich eine neue Blockkonfrontation: die liberalen Demokratien einerseits und Russland auf der anderen Seite.

Kanzleiter: Der Ukraine-Krieg hat auch Die Linke schockiert. Das in der Partei bisher dominierende Russland-Bild passt nicht mehr mit den neuen Realitäten zusammen. Das erzeugt Identitätsprobleme innerhalb der Partei, auch Grabenkämpfe. Wie wird das in der Linken debattiert?

Susanne Hennig-Wellsow ist seit Anfang 2021 Ko-Vorsitzende der Linkspartei. Davor war sie Landes-und Fraktionsvorsitzende der Linken in Thüringen und maßgeblich am Zustandekommen der rot-rot-grünen Landesregierung beteiligt.
Susanne Hennig-Wellsow ist seit Anfang 2021 Ko-Vorsitzende der Linkspartei. Davor war sie Landes-und Fraktionsvorsitzende der Linken in Thüringen und maßgeblich am Zustandekommen der rot-rot-grünen Landesregierung beteiligt.

Susanne Hennig-Wellsow: Als ich vom Angriff auf die Ukraine davon gehört hatte, war mein erstes Gefühl, dass die Sicherheit, dass wir uns in Freiheit bewegen können, dass mein Kind in Frieden aufwächst, mit einem Schlag weg war. Die Ukraine hatte, als der erste russische Panzer über die Grenze fuhr, keine Chance mehr zu entscheiden, wie mit diesem Konflikt umgegangen wird. Faktisch konnte es da schon nur noch Verlierer in diesem Krieg geben. Für mich ist das ein Angriffskrieg, der völkerrechtswidrig ist, der zurückgewiesen gehört. Die Waffen müssen niedergelegt werden. Aber wie macht man das?

Ich habe da mehr Fragen als Antworten. Warum haben Teile der Linken nicht erkannt, dass Putin kein Genosse ist, Russland nicht mehr die Sowjetunion ist, sondern dass wir es mit einem Autokraten zu tun haben, der nationalistisch, antidemokratisch, imperialistisch agiert? Schon seit Jahren. Möglicherweise sind wir als Ostdeutsche da anfälliger, aufgrund unserer Sozialisation, unserer Erziehung. Darüber müssen wir in der Linken diskutieren. Ich bin keine Freundin der Nato. Aber die Osterweiterung der Nato ist keine Begründung dafür, dass Putin einen Angriffskrieg führt.

Kanzleiter: In einem Strategiepapier der beiden Linke-Vorsitzenden vom Dezember 2021 heißt es, Die Linke solle als sozial-ökologische Partei ausgerichtet werden. Was heißt das unter dem Eindruck dieses Krieges?

Hennig-Wellsow: Die ökologische Frage ist eine soziale Frage. Der Krieg und all seine Folgen, also auch die Sanktionen gegen Russland, haben mit der Abhängigkeit Deutschlands von fossilen Energieträgern zu tun. Jetzt zeigt sich sehr drastisch, dass wir den Ausbau der Erneuerbaren Energien in den letzten Jahren verpennt haben. Wenn wir unter diesen Bedingungen einen kalten ökologischen Transformationsprozess anfangen, dann ist der nicht mehr sozial. Die 100 Milliarden Euro, die das Rüstungspaket kosten soll, müssen in Erneuerbaren Energien, in die soziale Absicherung fließen. Und alle Unternehmen, die mit dem Krieg Gewinne machen, sollten entsprechend besteuert werden.

Wir haben zwei Jahre Corona hinter uns. Diejenigen, die in Armut leben oder armutsgefährdet sind, haben finanziell extrem gelitten. Jetzt kommt mit dem Krieg die Preissteigerung obendrauf. Das heißt, wenn wir über die Klassenfrage reden, dann ist die deutlich gestellt: Für wen macht diese Regierung Politik, für wen macht Die Linke Politik? Diejenigen, die in den letzten zwei Jahren sehr gelitten haben, sind darauf angewiesen, dass wir eine starke Kraft sind.

Julia Fritzsche ist Journalistin und Autorin des Buches »Tiefrot und radikal bunt: Für eine neue linke Erzählung«. 
Beide diskutierten im »maldekstra-Salon« über das Thema »Es ist Krieg. Was kann die Linke tun?«. »maldekstra« ist das Auslandsjournal der Rosa-Luxemburg-Stiftung, das regelmäßig dem »nd« beiliegt. Das Gespräch, das wir hier auszugsweise wiedergeben, wurde von Boris Kanzleiter moderiert, der das Zentrum für internationalen Dialog der Rosa-Luxemburg-Stiftung leitet.
Das vollständige Gespräch ist im Internet unter dasND.de/maldekstra-salon zu sehen.
Julia Fritzsche ist Journalistin und Autorin des Buches »Tiefrot und radikal bunt: Für eine neue linke Erzählung«. Beide diskutierten im »maldekstra-Salon« über das Thema »Es ist Krieg. Was kann die Linke tun?«. »maldekstra« ist das Auslandsjournal der Rosa-Luxemburg-Stiftung, das regelmäßig dem »nd« beiliegt. Das Gespräch, das wir hier auszugsweise wiedergeben, wurde von Boris Kanzleiter moderiert, der das Zentrum für internationalen Dialog der Rosa-Luxemburg-Stiftung leitet. Das vollständige Gespräch ist im Internet unter dasND.de/maldekstra-salon zu sehen.

Kanzleiter: Bevor wir die Diskussion öffnen für Fragen und Kommentare aus dem Publikum, ein kleines Experiment: Ihr könnt euch gegenseitig eine Frage stellen.

Fritzsche: Eine Frage, die mich sehr bewegt: Wie können wir die Ukrainer*innen unterstützen, ohne irgendwie militärisch einzugreifen?

Hennig-Wellsow: Ich bin da unsicher. Als Parteivorsitzende sage ich, Die Linke ist nach wie vor gegen Waffenlieferungen in die Ukraine. Waffenlieferungen verlängern den Krieg. Ganz persönlich frage ich mich natürlich: Können wir über eine erfolgreiche militärische Gegenwehr der Ukraine erzwingen, dass Russland sich am Verhandlungstisch bewegt? Das kann im Moment keiner beantworten. Weil gleichzeitig klar ist, dass Russland diesen Krieg militärisch nicht verlieren kann. Allein aufgrund der Bewaffnung, der Größe der Armee.

Wir hatten neulich ein Treffen mit dem Vorsitzenden der europäischen linken Parteien. Da war relativ deutlich, dass ein Großteil der Europäischen Linken Waffenlieferungen ablehnt. Aber zum Beispiel denkt die finnische linke Partei darüber nach, ob sie für einen Nato-Beitritt sein soll. Das gibt es Sicherheitsinteressen, die man ernst nehmen muss.

Die Linke schon hat sich schon bewegt in der Frage der Sanktionen, des Einfrierens von Konten, in der Energieabhängigkeit von Russland. Aus dieser Abhängigkeit rauszukommen und Gas- und Ölimporte zu stoppen, das sind Wege, die man jetzt gehen muss.

Kanzleiter: Und nun deine Frage an Julia.

Hennig-Wellsow: Ich möchte an dein neues Buch »Tiefrot und radikal bunt« anknüpfen. Wir sind ja immer auf der Suche nach einem positiven Weltbild, einer Erzählung davon, was Linkssein, was linke Gesellschaftsveränderung bedeutet. Welchen Rat würdest du uns geben?

Fritzsche: Ich war vor ein paar Jahren im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Da gab es eine Wand mit Wortwolken aus den Parteiprogrammen. Die am häufigsten benutzten Worte sind dort am größten zu sehen. Bei der SPD waren das beispielsweise Arbeit und Zeit. Bei der FDP Freiheit. Bei der AfD Deutschland. Und bei der Linkspartei war ein Wort sehr groß: gegen. Wir als gesellschaftliche Linke sollten uns viel mehr damit beschäftigen, was unsere Idee ist und wofür wir sind. Wenn es darum geht, Utopien zu entwerfen, Menschen zu begeistern, dann wäre es wichtig zu sagen, wofür wir sind, wie das künftige gute Leben genau aussehen soll.

Frage aus dem Publikum: Welche Rolle spielt Rassismus dabei, dass der Krieg in Syrien in der deutschen Linken nicht ernst genommen wurde? Oder bei dem Unterschied zwischen der Hilfe für Ukrainer und dem Umgang mit dem Krieg im Jemen.

Fritzsche: Ich glaube, dass Rassismus da eine sehr große Rolle spielt. Das zeigt sich darin, dass viele für die ukrainischen Flüchtlinge Sympathien haben - die sind weiß, christlich, die haben blaue Augen. Ich habe eine gute Freundin aus dem Donbass, deshalb verfolge ich das sehr aufmerksam, kenne mehr Geschichten von Flüchtenden. Gleichzeitig sagen Kolleg*innen, ihnen gehen der Syrien-Krieg und der Jemen-Krieg genauso nahe, weil sie dort Menschen kennen. Sie verstehen nicht, dass es darüber nicht auch die ganze Zeit »Brennpunkte« gab und warum die Medien dafür nicht ihre Programme auf den Kopf stellen. Das ist eine sehr treffende Beobachtung.

Frage aus dem Publikum: Wieso werden die zwei russischen Forderungen nach Demilitarisierung der Ukraine und Ausschaltung der rechtsextremen Asow-Banden nicht akzeptiert? Dann wäre der Krieg zu Ende.

Hennig-Wellsow: Das Asow-Regiment ist etwa so groß wie die Einheit des Bundeswehr-Kommandos Spezialkräfte, die wegen rechtsextremer Umtriebe aufgelöst werden musste. Die faschistische Partei ist nicht mehr im ukrainischen Parlament, die ist rausgewählt worden. Was Putin als Entnazifizierung bezeichnet, ist ein Vorwand, um der eigenen Bevölkerung zu sagen: Wir befreien die Ukraine von Faschisten. Man kann das Asow-Regiment nicht dazu heranziehen, einen Krieg zu rechtfertigen.

Fritzsche: Gleichzeitig finde ich die Waffenlieferungen schwierig, weil man nie weiß, in welchen Hände die Waffen landen. Am Ende womöglich bei den russischen Streitkräften. Der Krieg ist einfach ein großer Gewaltraum.

Kanzleiter: Die innenpolitische Konstellation in der Bundesrepublik wird durch den Krieg massiv verändert. Die Ampel-Regierung hat das größte Aufrüstungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik beschlossen. Was sind die Hauptangriffspunkte aus linker Sicht, und wie kann man langfristig zum Aufbau einer linken Hegemonie in der Gesellschaft kommen?

Hennig-Wellsow: Es ist unsere Aufgabe als einzige linke Opposition im Bundestag, die Stimme dafür zu erheben, dass es keine Waffenlieferungen gibt, dass es keine Aufrüstung gibt und dass Sanktionen nur diejenigen treffen, die mit Putin zu tun haben, also beispielsweise die Oligarchen. Und dafür, dass wir uns nicht in die nächste Abhängigkeit von Autokraten begeben, siehe Katar. Die Bündnisfähigkeit mit SPD und Grünen ist angesichts dessen, was die Ampel sofort umsetzt, seit dieser Krieg begonnen hat, für dieses Jahrzehnt erst mal dahin. Wir wollen keine Aufrüstung, keine Atomwaffen. Dafür werden wir uns auch im Bundesrat einsetzen.

Und in den vier Bundesländern, in denen wir in der Regierung sind, müssen wir die humanitäre Hilfe für die Ukraine gewährleisten. Berlin wurde ja faktisch über Nacht zum Sammelpunkt der geflüchteten Ukrainer*innen, und da die humanitäre Hilfe hinzubekommen, ist ein Kraftakt gewesen. Wir werden in den nächsten Jahren sehr viel an sozialen Leistungen erbringen müssen. Auch im Wohnungsbau, in der schulischen Bildung für Kinder.

Und schließlich: Wir erleben, dass ein autokratisches kapitalistisches System sich gegen ein demokratisches System stellt, das auch kapitalistisch verfasst ist. Wir als Linke wollen eine sozialistische Politik. Dazu gehört Demokratie. Das kann der Punkt sein, an dem wir unsere Haltung deutlich machen können.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.