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Bedarf an Covid-Impfstoffen schrumpft
Da die Nachfrage weltweit erlahmt, sind die Lager übervoll - auch in Deutschland
77 Millionen Dosen Corona-Impfstoff hat der Bund laut einer aktuellen Aufstellung der Regierung derzeit auf Lager. Beim jetzigen Impftempo würde die Menge für die nächsten sechs Jahre reichen. Allerdings geht es hier nicht um ewig haltbare Konservendosen. Schon bis Ende Juni werden, wie die Regierung in einer Antwort auf eine CDU-Anfrage kürzlich vorrechnete, elf Millionen Impfstoffportionen ihr Verfallsdatum erreichen. Das Gesundheitsministerium geht davon aus, dass Corona-Impfstoff »in nicht wenigen Fällen« vernichtet werde.
Sollte das für sehr große Mengen gelten, wäre das gerade mit Blick auf die ungerechte internationale Verteilung für Deutschland heikel. Das dürfte ein Grund dafür sein, dass gerade Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bis zuletzt vehement auf eine Impfpflicht drängte, die ja eine künstliche Nachfrage erzeugt hätte. Einen ähnlichen Effekt hätte die Umsetzung der Empfehlung Lauterbachs, zumindest alle Bürger ab 60 sollten sich eine vierte Dosis holen. Für solche Vorgaben ist aber nicht der Minister zuständig, sondern die Ständige Impfkommission. Die Experten sind mit Blick auf die Datenlage zurückhaltender und empfehlen lediglich den über 70-Jährigen, Immunsupprimierten und Pflegeheimbewohnern einen zweiten Booster. Der Wunsch des Ministers könnte zwar millionenfache Nachfrage erzeugen - für die Corona-Bekämpfung brächte er wenig.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Der Bundesregierung fällt jetzt die bisherige Praxis auf die Füße, möglichst große Mengen Covid-Impfstoff zu hamstern, auch wenn dies für Knappheit am Markt sorgt - mit dem bekannten Ergebnis, dass arme Länder insbesondere in Afrika kaum zum Zug kamen. Auch dort ist man aber nicht mehr bereit, in größeren Mengen geschenkten Impfstoff abzunehmen, bei dem das Verfallsdatum kurz bevorsteht. Auch das praktiziert die Bundesregierung seit Langem, um Überschüsse loszuwerden. Schon wegen organisatorischer und infrastruktureller Probleme braucht es aber deutlich mehr zeitlichen Vorlauf. Die Covax-Initiative zur Verteilung von Corona-Impfstoffen an arme Länder nimmt daher derzeit keine Spenden mehr an.
Der Grund für die großen Überschüsse ist aber eine sinkende Nachfrage. Im Globalen Süden wie im Norden hat die Omikron-Variante des Coronavirus der Covid-Erkrankung weitgehend ihren tödlichen Schrecken genommen. Vielerorts besteht zudem eine hohe Grundimmunisierung - durch Impfung und Infektion. Dies alles hat Auswirkungen auf die Impfkampagnen: »Seit Anfang 2022 sind die Impfraten weltweit rapide gesunken«, heißt es beim Wissenschaftsdatenportal Airfinity, das von vielerorts wachsenden Lagerbeständen berichtet. Die Nachfrage werde in diesem Jahr noch sechs Milliarden Dosen betragen und 2023 weiter auf zwei bis vier Milliarden Dosen sinken. Dies hat auch Auswirkungen auf die Erlöse: Die Experten aus London senkten ihre Umsatzprognose für Covid-19-Impfstoffe (ohne chinesische Produkte, für die zu wenige Daten vorliegen) für dieses Jahr um ein Viertel auf 64,1 Milliarden Dollar. Betroffen seien alle Hersteller, am stärksten Astra-Zeneca und Johnson & Johnson.
»Der Impfstoffmarkt hat sich von einer hohen Nachfrage und einem begrenzten Angebot zu einer geringeren Nachfrage mit mehr Auswahl und einer Abneigung der Bevölkerung gegen wiederholte Impfungen entwickelt«, erläutert Matt Linley, Analytics Director bei Airfinity. In Israel und Chile - die beiden besonders impffreudigen Länder hatten ganz früh mit beiden Boosterungen begonnen - ging demnach die Inanspruchnahme der dritten Dosis um 25 Prozent und der vierten Dosis sogar um 50 Prozent zurück.
Auf diese setzen aber gerade die Hersteller der mRNA-Impfstoffe. Biontech/Pfizer und Moderna versuchen mit erheblichem Marketingaufwand und allerlei klinischen Daten, die Staaten dazu zu bringen, in immer neuen Runden die bisherigen Vakzine zu verabreichen. Allerdings wurden diese im Jahr 2020 noch gegen den ursprünglichen Wuhan-Typ von Sars-CoV-2 entwickelt. Das Virus hat sich mittlerweile stark verändert, und die aktuell dominierende Omikron-Variante ist dem Wuhan-Typ so unähnlich, dass sie den Impfschutz gut umgehen kann. Der Schutz vor symptomatischer Erkrankung beträgt bestenfalls noch 30 Prozent. Die Weltgesundheitsorganisation gibt für die Zulassung eines Impfstoffs mindestens 50 Prozent vor - die aktuellen Covid-Impfstoffe würden also durchfallen. Diese bieten zwar einen guten Schutz vor ganz schwerem Verlauf, aber dafür reichen mit Ausnahme bestimmter Risikogruppen zwei oder maximal drei Dosen.
Ausgerechnet eine Studie unter Beteiligung von Biontech liefert jetzt weitere Hinweise. Ein Team um die Virologin Sandra Ciesek vom Universitätsklinikum Frankfurt (Main) fand bei Labortests heraus, dass eine zweimalige Impfung sowie eine Durchbruchinfektion mit Omikron den besten Schutz bieten. Dadurch entstehen demnach mehr B-Gedächtniszellen, die so breit aufgestellt sind, dass sie auch die anderen Virusvarianten erkennen und neutralisieren können.
Biontech versucht, das Ergebnis durch eine allerdings höchst spekulative Ableitung zu retten: Eine Boosterung mit einem an Omikron angepassten Impfstoff könnte möglicherweise die gleiche Wirkung haben. Solche Vakzine sollen die aktuellen Absatzprobleme lösen. Die mRNA-Hersteller arbeiten schon seit Monaten daran, aber die Einführung steht noch in den Sternen. Ergebnisse von Tierversuchen sollen wenig ermutigend gewesen sein, wie es heißt. Bei Biontech werden erste klinische Daten frühestens Ende April, Anfang Mai erwartet. Experten diskutieren, ob die an Omikron angepassten Impfstoffe womöglich zu spät kommen, um noch etwas zu bewirken.
Es ist also unklar, wie es mit den Corona-Impfstoffen weitergeht. Im bisherigen Boom setzten die Hersteller auf die Schaffung immer neuer Produktionsstätten auf allen Kontinenten. Angesichts rückläufiger Nachfrage entstehen gewaltige Überkapazitäten. Astra-Zeneca und Johnson & Johnson mussten bereits an einigen Standorten zeitweilig die Produktion einstellen. Noch schwieriger wird es für die Neuen am Markt: Novavax hat bisher nur 30 Millionen Dosen seines proteinbasierten Impfstoffs ausgeliefert, errichtet aber Produktionsstätten für jährlich zwei Milliarden Dosen. Nicht wenige Hersteller hoffen daher, künftig auch Impfstoffe gegen andere Krankheiten herstellen und verkaufen zu können.
Staatliche Stellen befördern die Probleme noch. Die Bundesregierung etwa hat gerade langfristige Lieferverträge mit vier Herstellern geschlossen, zuletzt mit dem Tübinger Unternehmen Curevac, das an neuen mRNA-Impfstoffen arbeitet, die gegen mehrere Virusvarianten wirken sollen. Eine Zulassung ist allerdings noch nicht in Sicht.
Derweil wird munter weiterbestellt - trotz randvoller Lager. Bei diesen gibt es aber immerhin eine gewisse Entspannung: Die Haltbarkeit der Vakzine wurde um drei Monate verlängert. Ende Juni werden »nur« drei Millionen Dosen ablaufen.
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