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Damit die Bedürfnisse aller wahrgenommen werden
Revolutionäre Realpolitik konkret: Solidarische Care-Ökonomie - ein Debattenvorschlag von Gabriele Winker
Zwei Themen sind es, die neben dem Krieg in der Ukraine die öffentliche Agenda derzeit vor allem bestimmen - die Covid-19-Pandemie und die Klimafrage. Wichtige politische Debatten in der Linkspartei werden jetzt zudem durch Sexismusvorwürfe verdrängt, die wohl auch die Tagesordnung des im Juni anstehenden Bundesparteitags beeinflussen werden. Das ist wichtig, sollte aber die Linken nicht davon abbringen, ihre Bestimmung als gesellschaftlicher Anwalt sozialer und ökologischer Probleme wahrzunehmen. Daher sei hier die Aufmerksamkeit auf ein fundiertes aktuelles Buch gelenkt, verfasst von Gabriele Winker, Professorin für Arbeitswissenschaft und Gender Studies an der Technischen Universität Hamburg-Harburg und eine der Initiatorinnen des Netzwerks Care Revolution, in dem auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung mitwirkt.
Während der Pandemie ist klar geworden, welche Sektoren wirklich systemrelevant sind - es sind die, in deren Zentrum die Sorge um Menschen steht: Gesundheitsbereich, Bildung, Verkehr, die gesamte öffentliche Daseinsvorsorge mit ihrer kritischen Infrastruktur. Die Klimaerhitzung und Zerstörung der biologischen Vielfalt mit Folgen für die Ausbreitung von Pandemien verweisen darauf, dass wir die Ausbeutung der Natur beenden und in das Zeitalter der Sorge um unser irdisches Heim eintreten müssen. Anstelle der Anhäufung von immer mehr Gütern und Konzentration von Reichtum und Verfügungsgewalt bei immer weniger Menschen muss die Sorge umeinander und die Natur in das Zentrum der wirtschaftlichen Aktivitäten und der Politik treten.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Die besonders Betroffenen
Dies aber ist nur möglich, wenn die Kämpfe für die Transformation der kapitalistischen Wirtschaft in eine Wirtschaft solidarischer Sorge (den Care-Sektor im weitesten Sinne) mit den Kämpfen für Nachhaltigkeit und Klimagerechtigkeit zusammenfinden. Wie Gabriele Winker schreibt: »Um mehr politische Durchsetzungskraft zu entwickeln, fehlt derzeit jedoch ein zumindest punktuell gemeinsames Vorgehen der Klimabewegung und der auf soziale Themen bezogenen Bewegungen. Gleichzeitig fehlt eine gemeinsame Zielsetzung, die die Forderung nach einem System Change auf den Plakaten vieler Klimademonstrant*innen aufnimmt. Schließlich stellt diese grundlegende Umgestaltung eine Aufgabe dar, die sich auf die gesamte Gesellschaft, also auf die Inhalte aller sozialen Bewegungen, bezieht.«
Gabriele Winkers Schrift liegt das Konzept revolutionärer Realpolitik zugrunde, das von Rosa Luxemburg in der Tradition von Karl Marx entwickelt wurde: Es geht um die Verbindung der Kämpfe zur Lösung der aktuellsten und drängendsten Fragen mit dem Kampf für einen Systemwechsel - für Sozialismus. Beides hängt nach Winkers Überzeugung untrennbar zusammen, da Not und Überforderung vieler im Sorgebereich und Umweltzerstörung systemisch bedingt sind. Deshalb entsteht zwangsläufig eine Doppelkrise - die der sozialen und der ökologischen Reproduktion. Die herrschenden Akteure einer kapitalistischen Gesellschaft versuchen auf allen Gebieten, die »steigenden Reproduktionskosten der Arbeitskraft« und der irdischen Natur möglichst gering zu halten.
Das Buch von Gabriele Winker zeichnet sich erstens dadurch aus, dass sie weiß, wovon sie spricht. Sie hat selbst den Lebensalltag jener erforscht, die unter der Dauerkrise im Bereich der Sorge leiden. Sie schreibt nicht einfach über diese Menschen, sondern rekonstruiert die Sorgekrise aus der Sicht der Betroffenen. Das ist eingreifende, die Menschen begleitende Sozialforschung mit dem Ziel der Selbstaufklärung im besten Sinne. Sie kommt zu dem Ergebnis, »dass gerade Menschen mit umfangreichen Sorgeaufgaben ebenso wie diejenigen mit hohem Sorgebedarf, da sie häufig nicht in Vollzeit erwerbstätig sein können, mit geringeren finanziellen Ressourcen auskommen müssen, überproportional von Armut betroffen und oft auf Transferleistungen angewiesen sind«. Die besonders Betroffenen sind deshalb zugleich die, denen am wenigsten Ressourcen zur Verfügung stehen, um die Last zu tragen und sich zu wehren. Umgekehrt sind es die, die die entscheidenden wirtschaftlichen Sektoren konzentrieren und eine hohe Handlungsmacht haben, die das größte Interesse haben, keine das System infrage stellenden Reformen zuzulassen. Deshalb, so Winker, kommt jede realistische Analyse zu dem Schluss: »Mittelfristig ist … eine Revolutionierung aller Bedingungen notwendig, unter denen Menschen derzeit leben und häufig auch leiden.«
Wichtig ist, dass Gabriele Winker nicht bei der Analyse der systemischen Probleme stehen bleibt, sondern die Frage nach der Herstellung von Handlungsfähigkeit ins Zentrum rückt. Sie zeigt auf, wie gerade die Krise im Sorgebereich die Lohnabhängigen spaltet. Es gäbe jene (zwölf Prozent der Haushalte mit Kindern), die ein so hohes Einkommen haben, dass sie einen beträchtlichen Teil der Sorgearbeit (auch im eigenen Haushalt) an andere auslagern können. 36 Prozent der Haushalte mit Kindern und einem weitgehend durchschnittlichen Einkommen von zwei Erwachsenen würden dies zumindest noch teilweise tun können. Weitere 30 Prozent (mit einem Einkommen von 60 bis 80 Prozent des mittleren Einkommens) seien in einer prekären Lage. Sie müssten das Einkommen oft durch Minijobs aufbessern und würden zugleich einen großen Teil der Sorgearbeit selbst leisten. Über 20 Prozent seien in einem »subsistenzorientierten Reproduktionsmodell« gefangen. Sei seien arm, oft alleinerziehend oder würden Angehörige pflegen, teilweise selbst krank oder körperlich beeinträchtigt. Gerade die unteren Gruppen wie die Beschäftigten in den Sorgesektoren (teilweise ein und dieselben) würden in den Zustand chronischer Überlastung und Erschöpfung sowie psychischer Erkrankung getrieben. Es wird klar, wie schwierig es bei dieser Spaltung der Lohnabhängigen ist, sich kollektiv zu wehren und umfassende Reformen zu erkämpfen.
Die Beteiligten ernst nehmen
Gabriele Winker verweist aber auf die Ansätze für solche verbindenden Kämpfe: Dazu gehören neue Formen von Streik und Tarifauseinandersetzungen, die die Verbesserung der eigenen Lage mit der Verbesserung der Bedingungen, gute Sorgearbeit zu leisten, vereinen. Es sind auch Formen des Zusammengehens der Dienstleistungsgesellschaft Verdi mit Fridays for Future entstanden. Winker entwickelt daraus Ratschläge für die politischen Kämpfe: die unterschiedlichen Bedürfnisse der Beteiligten ernst nehmen, füreinander sorgen und sich respektieren in den Bewegungen, neue Kontakte knüpfen, gemeinsam lernen, Vernetzungen erweitern, Utopien entwickeln sowie Solidarität leben.
Einhaltung der Beschlüsse
Gabriele Winkers Buch zeichnet sich zudem dadurch aus, dass sie ihren Ansatz zu einer Transformationsstrategie verdichtet. Ziel sei »eine an menschlichen Bedürfnissen orientierte, radikal demokratisch gestaltete solidarische Gesellschaft«. Um diese zu erreichen, stellt sie vier Einstiegsprojekte ins Zentrum dieser Strategie: erstens eine drastische Verkürzung der Arbeitszeit, zweitens »Aufbau einer solidarischen Unterstützungsstruktur …, die sowohl individuell das Leben jedes Einzelnen absichert als auch auf unterschiedliche Bedürfnisse zugeschnittene Angebote zur Verfügung stellt« (nicht zuletzt ein bedingungsloses Grundeinkommen), drittens demokratische Strukturen, »damit die Bedürfnisse tatsächlich aller wahrgenommen werden und auch alle über die Gestaltung des Zusammenlebens mitentscheiden können«, viertens die Organisation von Gemeinschaftsprojekten und Commons. Ein wichtiger Teil der Agenda ist die Vergesellschaftung wichtiger Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge, aber auch der Einstieg der öffentlichen Hand in jene Sektoren, wo der Staat Hilfe beim sozial-ökologischen Umbau leistet.
Gabriele Winker geht davon aus, dass diese »Transformationsschritte« im Kapitalismus über ihn hinausweisen: »Eine Gesellschaft, in der Erwerbsarbeit erfolgreich zurückgedrängt wurde, in der die zentralen Bereiche der Ökonomie vergesellschaftet sind, in der sich demokratische partizipative Strukturen etabliert haben und immer mehr Commons existieren, hat ihren Charakter bereits grundlegend verändert. In einer solchen Konstellation kann es mit Zustimmung und Beteiligung großer Teile der Bevölkerung gelingen, auch die verbleibenden Privatunternehmen zu vergesellschaften und den umfassenden Aufbau einer solidarischen Gesellschaft zu organisieren.« Diese Gesellschaft trägt bei ihr den Charakter einer sich von unten frei ohne Markt und staatliche Planung, ohne Geld und Recht selbst organisierenden Assoziation von Gemeinschaften als Commons: »In einer solidarischen Gesellschaft können alle selbst entscheiden, welche Tätigkeiten sie ausführen und wie viel Zeit für Muße sie sich einräumen. So tragen alle zur gesellschaftlich notwendigen Arbeit in dem Maß bei, wie sie es für angemessen halten.« Es gäbe eine Vielfalt von Räten zu Care, Mobilität oder Ernährung, aber keine Institution, »die eine Entscheidung mit Zwang durchsetzen«, »kein Machtorgan …, das die Einhaltung der Beschlüsse gegenüber Einzelnen erzwingen kann«.
Ich teile dezidiert nicht die Auffassung, dass eine solche Vision einer nachkapitalistischen Gesellschaft den Widersprüchen einer zukünftigen komplexen Gesellschaft und den mit ihr verbundenen Interessenkonflikten tatsächlich gerecht wird. Sie führt meines Erachtens auch dazu, die heutigen unvermeidlichen Differenzen jener Bewegungen, die die von Gabriele Winker beschriebenen Kämpfe zur Überwindung der Doppelkrise von sozialer und ökologischer Reproduktion führen, solidarisch auszutragen, denn diese Transformation wird neue Formen von Zwang und Selbstzwang notwendig machen. Es ist kein Zufall, dass die radikale Linke immer auch über solchen Zwang, unter anderem als Diktatur des Proletariats, nachgedacht hat. Die vielen Willen der vielen Einzelnen und der gemeinsame Wille aller fallen heute und - davon gehe ich aus - auch in Zukunft niemals völlig zusammen. Heute zumindest gibt es eine durch die Herrschaft der kapitalistischen Verwertungszwänge bedingte scharfe Spaltung dieser Interessen. Die revolutionäre Realpolitik braucht eine Realutopie von Sozialismus, die über die Widersprüche selbst einer künftigen Gesellschaft nicht hinweggeht, will sie heute über Widersprüche hinweg verbinden.
Gabriele Winkers Buch klärt auf über die heutigen zentralen Konflikte, zeigt auf, wie Menschen in unserem Land davon betroffen sind, diskutiert Strategien und Einstiegsprojekte und macht unvermeidlich darauf aufmerksam, welche Arbeit am zeitgemäßen Sozialismusverständnis noch zu leisten ist.
Gabriele Winker: Solidarische Care-Ökonomie. Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima. Transcript-Verlag, 210 S., br., 15 €. Michael Brie ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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