- Politik
- Libyen
Drohender Angriff auf die Energieversorgung
Die russische Wagner-Gruppe verbreitet in Libyen noch immer Terror. Das passt durchaus in Moskaus Strategie
Nach dem Rückzug der russischen Armee aus den nördlichen Vororten von Kiew durchstreifen französische und ukrainische Ermittler in weißen Schutzanzügen die Ruinen. In den Kleinstädten Butscha und Borodjanka wurden bisher mehrere Hundert Tote geborgen, viele Opfer weisen Spuren von Folter auf. Um die Kriegsverbrechen vor Gericht zu bringen, dokumentieren Experten die Gräueltaten mit Kameras.
Auch in Libyen berichten Medien über die vielen zivilen Opfer des Ukraine-Krieges. In Tripolis erinnern die Schilderungen von Massengräbern viele Menschen an die 18-monatige Belagerung der Hauptstadt des nordafrikanischen Landes. Mehr als 200 000 Menschen hatten zu Beginn der Kämpfe im Frühjahr 2019 das Kampfgebiet im Süden von Tripolis verlassen.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
»Viele Libyer werden durch den Krieg in Europa gerade retraumatisiert«, sagt der Menschenrechtsaktivist Mohamed dem »nd«. Tatsächlich droht neue Gefahr. Die ehemaligen Belagerer von Tripolis scheinen erneut einen Angriff vorzubereiten. Deshalb möchte der 28-Jährige seinen Nachnamen nicht gedruckt sehen. Das könnte ihn in Gefahr bringen. Viele Libyer befürchten, dass der Konflikt zwischen Russland und dem Westen ausgehend vom Ukraine-Krieg auch ihr Land ergreifen könnte.
»In Libyen wird auch fast zwei Jahre nach Kriegsende Jagd auf alle gemacht, die offen über die Kriegsverbrechen reden«, sagt Mohamed. Noch immer befinden sich viele Kämpfer der privaten russischen Sicherheitsfirma Wagner im Land. In dem derzeitigen Machtvakuum in Libyen und zwei miteinander konkurrierenden Regierungschefs sieht der Kreml offenbar die Chance, eine zweite Front gegen den Westen aufzumachen. Wagner-Söldner helfen offenbar bei der Blockade zweier Ölhäfen im Osten des Landes.
Aber auch in Tripolis hat der Terror auf Wohngebiete mit dem Abzug der Belagerer nicht aufgehört. Rückkehrende Familien fanden versteckte Sprengfallen und Minen an Eingangstüren, Kühlschränken oder unter Kinderbetten. »Das kaltblütige Vorgehen ist in Butscha und Tripolis aus meiner Sicht die Handschrift von Wagner«, sagt Jamal Alaweeb. Der Kommandeur einer westlibyschen Kampfgruppe hat in Tripolis gegen Wagner und zuvor gegen den Islamischen Staat in der Stadt Sirte gekämpft. »Die direkte Konfrontation mit uns mieden die von Sudanesen bewachten Wagner-Leute. Ihr Job war es hauptsächlich, hinter der Front Angst und Schrecken zu verbreiten - und die Aufklärung der Lage«, erklärt Alaweeb. »Der Islamische Staat hat immerhin versucht, in den besetzten Gebieten bei einem Teil der Bevölkerung Sympathien zu gewinnen.« Die Armee von Feldmarschall Khalifa Haftar, Söldner aus dem Sudan und Kämpfer der russischen Sicherheitsfirma Wagner gingen in Tripolis dagegen ähnlich brutal vor wie die russische Armee jetzt im Norden der Ukraine.
Aus heutiger Sicht meint Alaweeb, dass der Häuserkampf in Tripolis für die Wagner-Söldner ein Training für die Ukraine gewesen sei. »So wie der gesamte Stellvertreterkrieg.« Von den rund 2000 Söldnern der Sicherheitsfirma Wagner gibt es nur wenige verschwommene Fotos. Die meisten wurden bei ihrem Abzug aus Tripolis von Passanten gemacht, die selbst Angst hatten, erschossen zu werden. Viel weiß man nicht über die Söldner. Ihr Handeln bleibt oft verborgen. Bekannt ist aber, dass der Kreml mehrere Hundert Wagner-Kämpfer aus Mali, Syrien, der Zentralafrikanischen Republik und Libyen vor dem 29. Januar abzog und in die Ukraine einfliegen ließ.
Hinweise auf eine Geisterarmee
In Libyen ist die Zahl der Wagner-Kämpfer aber hoch geblieben. Sie sind wohl auch weiterhin mit modernsten russischen Pantsir-Luftabwehrsystemen und Mig-29 Jets ausgestattet, die wie die lasergesteuerten Mörsersysteme niemals ohne Einverständnis des Kreml in ihre Hände gelangt wären.
Ein zwei Meter tiefer Graben war im Krieg 2019 und 2020 der letzte Vorposten Wagners in Tripolis. Keine 500 Meter von dem Frontabschnitt im Stadtteil Ain Zara entfernt, wo wir im Februar 2021 Mohamed Haddat, den Kommandeur der westlibyschen Armee, trafen. Bei einem Gegenangriff flohen die hier stationierten Wagner-Kämpfer unerkannt. Nach Kriegsende fand ein aufmerksamer Entminungsspezialist dort ein verstaubtes Samsung-Tablet. Zu Hause lud er die Batterie und wunderte sich über die kyrillische Schrift und zahlreichen Karten auf dem Gerät. Über den libyschen Militärgeheimdienst landete das Gerät bei der BBC, die es an IT-Experten weitergab. »Auf dem Gerät fand man schließlich die Beweise für unsere Beobachtungen der Geisterarmee, die wir oft nur als Schatten an der Front sahen«, sagte einer unserer Begleiter am Fundort.
»Eine Struktur zur Durchsetzung staatlicher Interessen außerhalb der Landesgrenzen schaffen«, so beschrieb ein ehemaliger Wagner-Söldner die Aufgabe der privaten Firma gegenüber BBC-Reportern. Bei ihrer Arbeit nehmen die in Russland und Osteuropa angeworbenen Kämpfer keine Rücksicht auf die Genfer Kriegsrechtskonvention oder andere Regeln.
Verbrannte Erde - das ist es, was Wagner hinterlässt. In den Straßenzügen rund um das Gefängnis von Ain Zara sind die Fassaden mit Einschusslöchern übersät. In der Dämmerung brennt nur in wenigen der mit Plastikfolie verklebten Fenstern Licht. Vor allem die als Gefechtsstand genutzten Gebäude wurden von Drohnenangriffen fast völlig zerstört und damit für immer unbewohnbar.
Ähnlich sieht es nun auch in den Städten der Ukraine oder im syrischen Aleppo aus - überall dort, wo Wagner nachweislich zum Einsatz kam. Die Bilder der Schutthaufen und Ruinen im ukrainischen Mariupol erinnern an die tschetschenische Hauptstadt Grosny nach der russischen Invasion, die 2009 offiziell beendet wurde. Grosny galt damals als die durch Krieg am schwersten zerstörte Stadt weltweit.
Zahlreiche Wagner-Söldner haben damals auch in Grosny gekämpft. Es war der Beginn der russischen Privatarmeen. »Mit Wagner entstand eine Hybridarmee aus russischen Streitkräften, lokalen Söldnern und osteuropäischen Militärexperten«, sagt Iliasse Sidiqui, Analyst für eine westeuropäische Sicherheitsfirma, der die Wagner-Aktivitäten seit Jahren beobachtet. In Kriegsgebieten wie Libyen tritt Wagner offiziell als »Ausbildungsteam« auf, um lokale Truppen fit zu machen. Offiziell entsendet Moskau Militärausbilder, tatsächlich landen vollständig ausgerüstete Kampfeinheiten.
Libyens General Haftar bat im Sommer 2017 Russlands Außenminister Sergej Lawrow in Moskau um militärisches Gerät und Militärexperten. Im Dezember 2017 empfing er in Bengasi Emissäre von Wagner. Damals kämpfte er gegen islamistische Milizen in Ostlibyen, wo der Großteil des libyschen Öls aus dem Boden gepumpt wird. So wurde Libyen für die Gruppe Wagner zur Goldgrube. In einem 2018 im Internet veröffentlichten Video sitzt der libysche General an einem langen Tisch im Kreml zwischen dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu und dem Oligarchen Yevgeny Prigozhin, der Finanzmogul hinter der Söldnertruppe.
Wagner war ursprünglich der Kriegsname von Oberstleutnant Dmitri Walerjewitsch Utkin, ein Fallschirmspringer-Veteran der Spezialeinheiten des russischen Militärgeheimdienstes GRU. Nach seiner Pensionierung 2013 ließ er sich von der russischen Sicherheitsfirma Slavonic Corps zuerst in den Irak, später in die Ostukraine und auf die Krim entsenden, wie so viele ehemalige russische Soldaten, deren staatliche Rente zum Leben nicht ausreicht.
Im Donbass wurde Utkin mit einem Wehrmachtshelm an der Front gesichtet, seine beiden SS-Tattoos am Hals deutlich sichtbar. Utkin macht aus seiner Leidenschaft für das Dritte Reich keinen Hehl. Als die Firma Slavonic Corps, die im Irak und auf Handelsschiffen vor der Küste Somalias stationiert war, 2014 durch den russischen Staat aufgelöst wurde, präsentierte sich Utkin unter dem neuen Firmennamen Wagner.
Offiziell streitet Russlands Regierung alle Kontakte zu der Kampfgruppe ab, private Militärfirmen sind in Russland sogar illegal. Laut russischen Quellen traf sich allerdings Russlands Generalstabschef bereits 2010 mit Eeben Barlow, Gründer der südafrikanischen Sicherheitsfirma Executive Outcomes, die in den 90er Jahren mit arbeitslosen weißen Spezialkräften von Südafrikas Apartheidsregierung schmutzige Kriege in Afrika führte.
Diese Logik prägt das Verhalten der Wagner-Truppe. Was einst 2014 in Syrien als »Gladiatoreinheit« im Auftrag des russischen Militärgeheimdiensts unter Utkins Kommando begann, sei mittlerweile zu einer »Armee von Sklaven« verkommen, so der russische Ex-Wagner-Kämpfer Marat Gabidullin. Der 65-Jährige wollte seine Memoiren in Russland unter dem Titel »Zweimal im selben Fluss« 2020 als Buch veröffentlichen. Doch er zog sein Werk aus der Druckerei zurück, weil er Drohungen erhalten haben soll. In Interviews bestätigt er: In den vergangenen Jahren habe Wagner vermehrt Kämpfer ohne jegliche Kriegserfahrung angeheuert.
Ein UN-Expertenteam hat im Oktober 2021 in einem Bericht über die Machenschaften der Söldnertruppe in der Zentralafrikanischen Republik konstatiert, dass sie dort gezielt Kriegsverbrechen begehe. »Vertreter der Wagner-Gruppe haben Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt begangen gegen Frauen, Männer und junge Mädchen«, heißt es dort. Es sei nicht klar, wie viele Menschen Opfer sexueller Gewalt wurden, weil »Überlebende Angst haben, ihre Fälle vorzubringen«. Wagner-Söldner wurden auf Geheiß des Präsidenten Faustin Archange Touadéra in die Zentralafrikanische Republik geholt worden und genossen de facto Straflosigkeit. Die UN-Experten forderten die Regierung auf, »alle Beziehungen zu privatem Militär- und Sicherheitspersonal zu beenden, insbesondere der Wagner-Gruppe«.
Ein neuer Krieg droht
In Libyen bereiten sich derzeit die Kommandeure der westlichen Milizen auf einen neuen Krieg vor. Augenzeugen berichten von Verlegungen der Wagner-Einheiten in die Heimatstadt des früheren Staatschefs Muammar al-Gaddafi, Sirte, und der Einrichtung einer neuen Operationszentrale von Haftars ostlibyscher Armee. Eine unbekannte Zahl an Mig-29 Jets der russischen Luftwaffe steht im zentrallibyschen Jufra zum Einsatz bereit, bewacht von sudanesischen und tschadischen Söldnern. Mit dem ostlibyschen Flughafen Al-Khadim, den regelmäßig russische Transportflieger aus Syrien anfliegen, haben die Paramilitärs von Wagner damit Zugriff auf drei Flughäfen in Afrikas ölreichstem Land.
Italiens Regierungschef Mario Draghi kündigte kürzlich Verhandlungen mit der libyschen Regierung über die Ausweitung des Gas- und Ölexports über die »Greenstream«- Pipeline nach Europa an. Zeitgleich beobachten westliche Diplomaten mit Sorge die Stationierung von Wagner-Söldnern in der ostlibyschen Hafenstadt Bomba. Mit kleinen Kommandoaktionen könnten die Söldner von dort die Handelsschiffe auf dem Mittelmeer angreifen. Überhaupt könnten Wagner-Einheiten mit Haftars Armee Libyens Energielieferung nach Europa schnell beenden.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.