Der Fluch der Vampire

Vor 100 Jahren kam Friedrich Wilhelm Murnaus »Nosferatu« ins Kino. Ein Besuch in Wismar

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.
Da simuliert jemand Leben, der längst tot ist, indem er den Lebenden das Blut aussaugt: Max Schreck als Vampir Graf Orlok in »Nosferatu« (1922)
Da simuliert jemand Leben, der längst tot ist, indem er den Lebenden das Blut aussaugt: Max Schreck als Vampir Graf Orlok in »Nosferatu« (1922)

Was ist das für ein Geschöpf, das im Morgengrauen von einem lautlos in den Hafen gleitenden Schiff steigt, sein Gepäck schultert und durch das Wassertor die Stadt betritt? Eines, das man so noch nicht gesehen hatte, erst recht nicht hier in Wismar, wo Friedrich Wilhelm Murnau im Sommer 1921 »Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens« dreht. Ein Untoter, ein Nosferatu, der wie »Graf Dracula« in Bram Stokers gleichnamigem Roman nach Whitby kommt, das hier Wisborg heißt, weil es Albin Graus Produktionsfirma Prana-Film geflissentlich versäumt hat, die Verfilmungsrechte für den Roman einzuholen.

Doch diese Retuschen halfen nichts. Sie hatten nicht mit der Unerbittlichkeit der Witwen gerechnet. Stokers Witwe verklagte Murnau und Prana-Film wegen Verletzung der Urheberrechte – und gewann. Alle Kopien des 1922 – nicht gerade erfolgreich – in den Kinos angelaufenen Films sollten per Gerichtsurteil vernichtet werden. Zum Glück für die Filmgeschichte erwiesen sich einige der Kopien als wahrhaft untot – und überlebten bis heute. Und was für ein Film ist das, ein Blick in die Abgründe der menschlichen Natur, ein avantgardistisches Schattenspiel, stilprägend bis heute!

In Wismar begann vor 100 Jahren die Geschichte eines Meisterwerks des deutschen Stummfilms. Graf Dracula, hier Graf Orlok als Vampir aus Transsilvanien, kommt mit dem Schiff an, weil er in der Stadt eine Immobilie erworben hat. Aber nicht er allein, mit ihm verlassen die Ratten das Schiff, die Seuchenbringer, die Todesboten!

Diese für den Dreh zu finden, war nicht einfach. Die Zeit der Ratte als Haustier für spleenige Zeitgenossen war noch nicht gekommen. Sah man damals eine Ratte, rief man mitleidlos nach dem Kammerjäger. Der inserierte regelmäßig in der Wismarer Zeitung mit einer suggestiven Zeichnung – eine Ratte am Galgen sollte seinen unfehlbaren Jagderfolg bezeugen. Nichts Ungewöhnliches für den frühmorgendlichen Zeitungsleser. Aber an diesem Julimorgen 1921 wird einigen Einwohnern Wismars wohl fast die Kaffeetasse aus der Hand gefallen sein, als sie folgende Annonce lasen: »30–50 lebende Ratten für Filmarbeiten sofort zu hohen Preisen zu kaufen gesucht.« Doch Ratten waren in Wismar offenbar Mangelware – am Ende hatte Murnau Schwierigkeiten, gerade mal ein Dutzend für den Filmdreh zu bekommen. Die klettern dann effektvoll vor der Kamera aus der Ladeluke des schweigsamen Totenschiffs, denn allen Seeleuten hatte Nosferatu auf der langen Reise das Blut ausgesaugt. Sie gehen von Bord und tragen das Verderben in die Hafenstadt.

Das Sujet ähnelt Albert Camus’ existenzialistischem Roman »Die Pest«, wo aus den Kanälen aufsteigende Ratten im algerischen Oran von dem bevorstehenden Ende der französischen Kolonialherrschaft künden. Obwohl, im Untergrund sind die Ratten ohnehin immer: Auf jeden Berliner kommen gegenwärtig drei bis vier Ratten in der Kanalisation. Beunruhigen uns die gut zehn Millionen unter unseren Füßen? Eher nicht. Aber wehe, sie kämen alle zugleich an die Oberfläche!

Was für Untote der 1888 in Bielefeld geborene Murnau mit sich trug, lässt sich ahnen. Im Ersten Weltkrieg war er Kampfflieger und landete mit seinem Flugzeug schließlich in der neutralen Schweiz – das Kriegsende erlebte er in einem Internierungslager. Die Kriegsbilder, die er im Kopf behielt, erinnern an Goyas Zyklus »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer«. Auch davon zeugt »Nosferatu«: Eine gestorbene Seele wandert umher, einen Platz suchend, an dem sie Frieden findet. Heiner Müller hat an dieses Motiv angeknüpft, als er in seinem Todesjahr 1995 ein Gedicht mit »Vampir« betitelte. Darin lesen wir über eine sich vollziehende Realitätsauflösung: »Statt Mauern stehen Spiegel um mich her / Mein Blick sucht mein Gesicht / Das Glas bleibt leer.«

Das Multitalent Albin Grau, der auch die künstlerische Gesamtleitung von »Nosferatu« hatte, war Mitglied der Pansophischen Loge in Berlin. Diese folgte dem Weltbild der Gnosis – da liegt das Böse beständig im Kampf mit dem Guten. Grau entwickelt nun apokalyptische Modelle, in denen mathematische Berechnungen in grafischer Form erscheinen, was durchaus avantgardistisch wirkt. Für die expressive Bildsprache von »Nosferatu« hat sich Albin Grau die düsteren Zeichnungen von Hugo Steiner-Prag (dessen Illustrationen von Gustav Meyrinks »Der Golem« berühmt wurden) als Vorbild genommen.

Trotz seines Faibles für die Schattenwelt ist Albin Grau durchaus jemand, der ins Licht der Öffentlichkeit drängt. »Nosferatu« geht in die Geschichte des Kinos als jener Film ein, dessen Werbebudget höher war als das der eigentlichen Produktion. Murnau besetzt seinen Film mit Schauspielern von Max Reinhardts Deutschem Theater in Berlin. Neben Max Schreck als Nosferatu sind das Alexander Granach, Gustav von Wangenheim, Wolfgang Heinz und Ruth Landshoff.

Aber warum kommt Murnau – der auch in Lübeck und im Riesengebirge dreht – ausgerechnet nach Wismar, diese nach der Reichsgründung von 1871 in graue Depression verfallene Hansestadt? Eben wegen dieser Depression. Drei riesige Backsteinkirchen, Zeugnis einstiger Bedeutsamkeit, dominieren eine gedrückt daliegende Stadt. Hier, wo die Straßen so befremdliche Namen tragen wie Sargmacherstraße und Tittentasterstraße (wir sind in einer derben Hafenstadt!), schien die Zeit stehen geblieben zu sein.

Vom Turm der Marienkirche blicken Murnau und sein Kameramann Fritz Arno Wagner hinunter, dorthin, wo Max Schreck als Nosferatu unsicheren Schrittes geht, seinen Sarg vorsichtig vor sich hertragend als sein kostbarstes Gut. Den Sarg braucht er, um am Tage darin zu schlafen. Er ist mit Erde gefüllt, denn das Herz des Vampirs schlägt zwar nicht mehr, aber in der Fremde hält er es ohne heimatlichen Boden nicht aus. Und das ist das bis heute Bestürzende an Max Schrecks Nosferatu-Darstellung: seine gespenstische Einsamkeit, seine groteske Verlorenheit, die schließlich alles zerstört, was sie berührt. Da simuliert jemand Leben, der längst tot ist, indem er den Lebenden das Blut aussaugt.

Mit dieser Angst vor den Untoten, die aus den Gräbern kommen, spielte eine ganze spätromantische Kunstrichtung um 1900, die »Gothic Novel«, zu der auch Stokers »Dracula« zählt. Eigentlich hatte der Aufklärer Voltaire ein Jahrhundert zuvor schon alles über Vampire gesagt: Die Vampire, die er kenne, wohnten alle in Bankhäusern! Aber der Schatten, den sie werfen, ist lang.

Bei Murnau heißt Nosferatu Graf Orlok. Was dem Film die symbolische Wucht, das eigentliche Grauen gibt, ist dessen nächtliche Verwandlung in eine Fledermaus. Der Schatten der Fledermaus wird fortan zu einer Ikone der Massenkultur. Dieser Bote der Nacht avanciert zum Todessymbol. Der Blutsauger kommt, wenn wir uns am wenigsten gegen ihn wehren können: im Schlaf. Max Schrecks Nosferatu, diese krampfgewordene Gestalt mit den bizarr langen Fingernägeln und den großen Augen im Totenschädel, erregt fast unser Mitleid. Er ist das Böse wider Willen, ein Getriebener, der sich schließlich sogar unglücklich verliebt – und sich in einem Anflug von Einsicht in seine Schädlichkeit von der ihm feindlichen Morgensonne aufzehren lässt.

Die Marienkirche, von deren Turm Murnau die Stadt filmte, wurde in der Nacht vom 14. zum 15. April 1945 bei einem amerikanischen Luftangriff fast vollständig zerstört. Die Reste sprengte man 1960 – nur der Turm blieb wundersamerweise stehen, auch wegen seiner Größe als eingetragenes Seezeichen.

Albin Grau und Friedrich Georg Murnau schufen mit »Nosferatu« ein Meisterwerk des filmischen Expressionismus, das kurz nach seiner Filmpremiere vor 100 Jahren verloren zu gehen drohte. Albin Graus Prana-Film ging in Konkurs, und Murnau lief dem eigenen Anspruch von »Nosferatu« hinterher. Seinem Hauptdarsteller, dem großartigen Max Schreck, der zum personifizierten Vampir wurde, wie ihn die zahlreichen späteren Verfilmungen nicht einmal ansatzweise mehr erreichten, ging es ähnlich. Immer kleineren Filmrollen folgte das Fast-vergessen-Werden des bis zu seinem Tod auf der Theaterbühne stehenden Schauspielers.

Murnau, der 1924 mit »Der letzte Mann« (mit Emil Jannings) und 1926 mit »Faust – eine deutsche Volkssage« noch einmal sein großes Talent unter Beweis stellte, starb 1931 bei einem Autounfall im kalifornischen Santa Barbara, als er gerade einen neuen Film drehte. Er wurde in einer von seinen Verehrern eigens errichteten Kapelle auf dem Südwestfriedhof Berlin-Stahnsdorf beigesetzt. 2015 stahlen Unbekannte seinen einbalsamierten Kopf.

Auch Wismar, seit 20 Jahren Weltkulturerbe, kämpft offenbar mit dem Fluch der Vampire. Die Werftsilhouette dominiert eine riesige Werkhalle. Die gehörte einem chinesischen Eigentümer, der inzwischen insolvent ist. In der Halle liegt ein monströser Untoter: das größte Kreuzfahrtschiff der Welt, fast fertig, aber vermutlich ohne Zukunft: die »Global Dream«.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.