- Berlin
- Klage gegen Polizeigewalt
Polizeigewalt kommt vor Gericht
Protest gegen Berliner Landesparteitag der rechten AfD wurde laut Juristen rechtswidrig von Beamten angegriffen
Am Kinn wird die barfüßige Frau in Sommerkleidung von dem Beamten in die Luft gehoben – von hinten, denn sie war im Weggehen begriffen. Anschließend stößt sie der Polizist auf den Boden. Zwei hinzukommende Beamte schleifen die mit kurzer Hose und Trägershirt bekleidete Kundgebungsteilnehmerin dann über den Boden und tragen sie weg. Nur wenige Minuten später herrscht ein Beamter einen jungen Mann, der im Gesicht blutet und mit herunter gedrücktem Kopf abgeführt wird, an: »Hör auf zu heulen, Mann!«
Es sind nur einige Sequenzen aus mehreren Videos, die »nd« vorliegen, die oben beschrieben sind. Sie zeigen, was am Nachmittag des 6. Juni 2021 vor einem in Biesdorf aufgestellten Zelt, in dem die Landespartei der rechten AfD ihren Parteitag abhält, geschehen ist: Eine halbe Stunde lang gehen an diesem heißen Juninachmittag Beamte der elften Einsatzhundertschaft massiv gegen eine gegen den Parteitag gerichtete Kundgebung vor. Etwa ein Drittel der Teilnehmer*innen der bis dahin friedlichen Veranstaltung, an der insgesamt bis zu 50 Personen teilgenommen hatten, wird in diesem Zeitraum von Beamten in Gruppenstärke wie oben beschrieben oder in ähnlicher Art und Weise ergriffen und abgeführt.
»Das Vorgehen zeigt, dass die Versprechungen des neuen Versammlungsfreiheitsgesetzes Berlin nicht eingelöst wurden«, erklären dazu Anna Gilsbach und Peer Stolle. Die Rechtsanwält*innen vertreten in einer an diesem Mittwoch beim Berliner Verwaltungsgericht eingereichten Klage gegen die Berliner Polizei den Kundgebungsleiter. Dieser habe angesichts des polizeilichen Vorgehens die Sicherheit der Versammlungsteilnehmer*innen nicht mehr gewährleisten können und sich gezwungen gesehen, die Kundgebung vorzeitig zu beenden.
»Das Versammlungsgelände war durch Gitter abgesperrt, beide vorhandenen Zugänge waren mit Polizeikräften besetzt. Aus der Kundgebung heraus kam es zu einigen verbalen Unmutsäußerungen gegenüber dem bei der Polizei hospitierenden SPD-Abgeordneten Tom Schreiber«, beschreiben die Anwält*innen die Situation.
Obwohl nach Lautsprecherdurchsagen diese verbalen Adressierungen ohne polizeiliches Eingreifen beendet worden seien, nahmen die Beamten offensichtlich dieses Geschehen etwa eine Stunde später zum Anlass, »Versammlungsteilnehmer*innen aus der Kundgebung zu entfernen, um wegen des Vorwurfs der Beleidigung ihre Identität festzustellen«. Dies wurde begleitet durch »anlassloses Filmen, unverhältnismäßigen körperlichen Zwang« sowie von »Schubsen und Schlagen unbeteiligter Versammlungsteilnehmer*innen«, so die Anwält*innen. Mehrere von ihnen wurden demnach zu Boden gebracht, mindestens einer musste anschließend im Krankenhaus behandelt werden.
»Es ist nicht ersichtlich, warum man beispielsweise mit der Identitätsfeststellung nicht warten konnte, bis Teilnehmer das Gelände verlassen. Auch eine andere Ansprache wäre durchaus möglich gewesen. Dass es sich bei den Teilnehmer*innen offensichtlich nicht um Störer handelte, kann man daran sehen, dass die festgenommenen Teilnehmer*innen kurze Zeit später wieder auf das Gelände gelassen wurden«, erklärt Peer Stolle gegenüber »nd«. Von der rechtlich gebotenen Möglichkeit, die Identitätsfeststellungen beim Verlassen der Kundgebung durchzuführen, machte die Polizei demnach keinen Gebrauch. Die mehrfachen Versuche des Klägers, die Polizeiführung dazu anzuhalten, die Störungen zu unterbinden, blieben erfolglos. »Es scheint kein Unrechtsbewusstsein bei der Berliner Polizei zu geben«, sagt der Anwalt. »Gewaltvolle Festnahmen scheinen vollkommen normal zu sein. Beamte wenden aus unersichtlichen Gründen Schmerzgriffe an, die dazu führen, dass die Teilnehmer*innen in Panik geraten und sich wehren.« Dieses Verhalten werde ihnen dann als Widerstand ausgelegt und führe zu Strafverfahren.
Es seien augenscheinlich innerhalb dieser halben Stunde immer neue Gründe gefunden worden, um die Störung der Veranstaltung fortzusetzen. »Versammlungen sind grundsätzlich staatsfrei, insofern wäre es besonders wichtig gewesen, dass sich die Polizei dabei zurückhält«, betont Stolle.
»Es gibt ein neues Versammlungsgesetz, das angeblich liberal sein soll. Es verhindert solche rechtswidrigen Einsätze offensichtlich nicht. Wenn die Politik solche Rechtswidrigkeiten nicht unterbindet, muss eben der Weg über die Gerichte gegangen werden, um die Rechtswidrigkeit festzustellen.« Niemand dürfe damit rechnen müssen, »allein aufgrund der Teilnahme an einer friedlichen Versammlung von der Polizei geschubst und geschlagen zu werden«, erklärt der Jurist.
Die Wirkung des Einsatzes sei weit über eine Identitätsfeststellung hinaus gegangen, ergänzt Stolles Kollegin Anna Gilsbach, die ebenfalls den Kläger vertritt. Er habe durch die Art und Weise der Durchführung Auswirkungen auf die gesamte Versammlung gehabt. »Deshalb werten wir den gesamten Polizeieinsatz als rechtswidrigen Eingriff in die Versammlungsfreiheit«, sagt Gilsbach.
Das Bündnis Kein Raum der AfD erklärt am Mittwoch: »Ein solches Vorgehen der Berliner Polizei ist leider kein Einzelfall. Auch die im Versammlungsfreiheitsgesetz festgeschriebene Deeskalationspflicht der Polizei hat hieran nichts geändert«.
Tim Reiche, Sprecher des Bündnisses, sagt zum Vorgehen der Berliner Polizei: »Es zeigt, dass auch ein sogenanntes Versammlungsfreiheitsgesetz die Versammlungsfreiheit in der Praxis nicht garantiert.« Es habe »in Berlin System, dass bekannte Schläger-Hundertschaften linke Demonstrationen und deren Teilnehmende« angreifen würden. »Das wollen wir so nicht stehen lassen«, betont Reiche das Anliegen der Klage.
»Die Rolle von Tom Schreiber bei dieser gewalttätigen Eskalation finden wir einfach nur widerwärtig«, kritisiert Reiche den Auftritt des SPD-Innenpolitikers. »Während andere SPD-Politiker*innen an unserer Versammlung gegen die AfD teilnahmen und gegen rechts einstanden, war ihm eine sinnlose Provokationen im Wahlkampf wichtiger.« Wer Antifaschist*innen nur aus persönlicher Kränkung per Fingerzeig bei der Polizei diffamiere, »hilft nur der AfD«.
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