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Leben in einer brüchigen Traumwelt
Benjamin Berton hat eine Biografie über das Indie-Urgestein Daniel Treacy geschrieben
Daniel Treacy war Gründer, Sänger und Songwriter der fast unbekannten, aber sehr einflussreichen Indie-Pop-Band Television Personalities. 1960 geboren, stolperte er rückwärtsgehend in die wilden Punkzeiten und die düsteren Thatcherjahre der Endsiebziger hinein, den Blick fest auf das sich immer weiter entfernende swinging London der Sechziger gerichtet. Gestrauchelt ist er dabei nicht nur einmal. Er musste Misserfolge hinnehmen, hatte mit Depressionen zu kämpfen, konsumierte zu viele Drogen und wurde von Freunden und Frauen verlassen. Aber von seinem Weg abbringen ließ er sich dadurch nicht. Treacy ist ein Antiheld, der sein Leben in einer Pop-Parallelwelt aus Literatur-, Film- und Popreferenzen verbringt. Er lebt in den britischen New-Wave-Filmen der Sechzigerjahre wie »Bitterer Honig«; er lebt in der Musik der Beatles, der Kinks und von Velvet Underground; er lebt in den Kunstwerken von Roy Lichtenstein, Andy Warhol oder Salvatore Dali. Er lebt in seiner eigenen brüchigen Traumwelt.
»Die Musik der Television Personalities war windschief, unbeholfen und durchdrungen von einem schrägen Verhältnis zur Realität«, beschreibt Treacy-Biograph Benjamin Berton den Sound von Daniel Treacys Band. Berton ist in Frankreich ein renommierter Schriftsteller. Im Jahr 2000 bekam er für seinen Roman »Wildlinge« den Prix Goncourt. »Dreamworld. Oder: vom fabelhaften Leben des Dan Treacy und seiner Band Television Personalities« heißt sein großartiges Buch über die britische Indie-Legende.
Im Jahr 1977 verlässt der siebzehnjährige Dan Treacy die Schule. Seine Mutter betreibt eine Wäscherei in London. Treacy bringt die gewaschene Wäsche zu Bob Marley, Robert Plant und Jimmy Page. So kommt er an einen Job im Labelbüro von Led Zeppelin. Sein Einstieg ins Musikgeschäft. Mit vier Schulfreunden gründet er die Band Television Personalities. Der berühmte BBC-Radiomoderator John Peel spielt die ersten beiden Singles der Gruppe »14th Floor« und »Where’s Bill Grundy now?« in seiner Sendung. Und schon diese beiden Songs zeigen den typischen Treacy-Stil. Britische Gitarrenmusik in klassischer Besetzung: Zwei Gitarren, ein Bass und Schlagzeug. Alles ein bisschen holprig und windschief. Der Text von »14th Floor« ist ein Art Ali-Mitgutsch-Panorama eines Wohnblocks in London. »Where’s Bill Grundy now?« nimmt den Skandal um ein Interview des BBC-Moderators Bill Grundy mit den Sex Pistols und ihrem Gefolge auf. Grundy hatte die wie eine Porzellanpuppe geschminkte Siouxsie Sioux gefragt, ob sie sich nach der Sendung mit ihm treffen wolle, woraufhin er von den Sex Pistols mit eindeutigen Schimpfwörtern belegt wurde. Er verlor daraufhin seinen Job.
Weil die Band bei einem Majorlabel keine Chance hatte, gründete Treacy eine eigene Plattenfirma »Dreamworld«. Zusammen mit seiner Freundin Emiliy vertreibt der inzwischen schwerst drogenabhängige Treacy zwischen 1985 und 1987 die Platten der Bands, von denen er überzeugt ist. Meistens Gitarrenpop. Schließlich bricht das Label wegen finanzieller Probleme zusammen und die Beziehung zu Emily gleich mit. Berton deutet an, dass Treacy vermutlich Geld veruntreut hat, um seine Sucht zu finanzieren.
Die Karriere der Television Personalities nimmt auch Ende der Achtziger keinen Schwung auf. Obwohl Kurt Cobain zu den Verehrern Treacys gehört und die Band 1991 als Vorgruppe für Nirvana engagiert, bleiben die Television Personalities eine kleine Szenenummer. Treacy wird immer seltsamer und geht seinen Bandkollegen auf die Nerven. Trotz etlicher Umbesetzungen versackt die Karriere der TV Personalities immer mehr.
Schließlich landet Treacy wegen wiederholter Beschaffungskriminalität im Jahr 2004 für fünf Monate auf einem Gefängnisschiff. Aber auch nach der Haft kommt er nicht auf die Beine. Weiterhin drogenabhängig zieht er von Wohnung zu Wohnung, immer von Obdachlosigkeit bedroht. Trotzdem gelingen ihm weiterhin schöne Songs. Er geht sogar auf Tour. Nach einer Nacht in dubioser Gesellschaft im Jahr 2011 stürzt Treacy mehrmals. Ein Blutgerinsel muss aus seinem Gehirn entfernt werden. Halb blind und verwirrt lebt er seither in einer Pflegeeinrichtung.
Dan Treacy führte das typische Leben eines prekären Boheme, der sich ständig am Existenzminimum entlang bewegte. Dem introvertierten Träumer fehlte das Ego, um ein großer Star zu werden. Ein Alphatier war er nie. Er gehört den Musikern der Generation Fan an. Sozialisiert zwischen dem Rock’n Roll Revival in den Siebzigern, Punk und Postpunk, eiferte er seinen Vorbildern aus den Sechzigern nach. Aber anders als seinen Vorbildern ging es ihm nicht darum, etwas ganz Neues zu machen, er wollte einfach nur das gute Alte fortsetzen. Und das tat er mit der DIY-Mentalität des Punk und schuf auf diese Weise dann doch etwas Neues. So wie es Bands wie The Jam oder Biff Bang Pow zur gleichen Zeit taten. Nur nicht so poetisch und sympathisch schief.
Wie wird man als Biograf einem solchen Leben gerecht? Berton hält sich an die Fakten. Aber in »Dreamworld« geht es nicht um Wahrheit, es geht um Wahrhaftigkeit. Und damit kommt der Autor dem fabelhaft traurigen Leben Treacys näher als jede akribische Daten- und Faktenhuberei. Fiktionen und Realität sind unentwirrbar miteinander verflochten. Geschichten und ihre fiktionalen Charaktere können durchaus Lebensbegleiter*innen sein. Die Beziehung zu ihnen ist real und beeinflusst, wer wir sind.
Berton lässt einen fiktionalen Charakter als Interviewpartner sein Buch entern. So wie in Woody Allens »Purple Rose of Cairo« die Filmfiguren ins wirkliche Leben treten, so betritt die Filmfigur Geoffrey Ingram Bertons Buch. Ingram ist eine von dem Schauspieler Murray Melvin verkörperte Figur in dem 1961 gedrehten britischen Film »A Taste of Honey«, der auf Deutsch »Bitterer Honig« heißt. Er ist ein feinfühliger schwuler Mann, der versucht, einem ungewollt schwanger gewordenen Mädchen aus der Patsche zu helfen. Und genau diesen Filmcharakter machte Daniel Treacy 1981 zum Helden eines Songs auf dem Debütalbum der Television Personalities »…And Don’t the Kids Just Love It?« Er beschreibt Ingram als einen Typen, der immer ein bisschen mehr Glück hat, als ihm zusteht. Und mit diesem fiktionalen Geoffrey Ingram trifft sich der reale Autor Berton in drei wunderbaren Kapiteln.
Im letzten nimmt Ingram ihn mit in die Pflegeeinrichtung, in der Treacy lebt. Zu Bertons Überraschung ist Ingram nicht das Drogenwrack, das er erwartet hat. Der verdutzte Autor fragt bei Ingram nach, ob das wirklich Treacy sei, worauf der fiktive Ingram antwortet: »Natürlich nicht, er ist ein Charakter geworden. … Die Dinge sind nicht mehr dieselben, wenn Sie sie erst mal erzählen.« Und so gibt Berton dem Leser am Ende des Buches zu verstehen, was eine Biografie eigentlich ist: Eine Fiktion, die sich von einem Roman lediglich durch ihren Umgang mit den Fakten unterscheidet. Zusammen mit dem Helden seines Buches und dem fiktionalen Ingram wird dem Autor Berton bewusst, dass er Treacy »monatelang neu erfunden« hat.
Popfans verehren ihren Star nicht, weil er ein so netter Mensch ist. Sie verehren das, was sie aus ihm gemacht haben. »Biographin und Biographierte bilden ein Produktionspaar, das einen phasenverschobenen Dialog führt«, bringt die Literaturwissenschaftlerin Angela Steidle in ihrer »Poetik der Biografie« diesen Sachverhalt auf den Punkt. »Die Frage, was erfunden ist, was wahr, wird ad absurdum geführt: Leben ist auch nur Kunst«, stellt Steidle fest.
»Dreamworld« ist mehr als eine Biografie. Es ist eine Reflexion darüber, welche Möglichkeiten man hat, ein Leben zu erzählen. Und am Ende steht die Erkenntnis, dass die Realität oft nur in Fiktionen erfassbar ist. Berton wird damit nicht nur der Lebensgeschichte Treacys gerecht, sondern auch seiner multireferenziellen Kunst, die Realität und Fiktion schon immer ineinander aufgehen lassen hat.
Benjamin Berton: »Dreamword. Oder: vom fabelhaften Leben des Dan Treacy und seiner Band Television Personalities «, Ventil-Verlag, 280 S. geb., 22€.
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