Warum bin ich an 1989/1990 erinnert?

Gregor Gysi wirft dem »Spiegel« eine Kampagne gegen die Linke vor

  • Gregor Gysi
  • Lesedauer: 5 Min.

Als ich im Dezember 1989 für eine Woche zum Vorsitzenden der SED und dann zum Vorsitzenden der SED/PDS und sechs Wochen später zum Vorsitzenden der PDS gewählt wurde, gab es zunächst bestimmte Reaktionen und dann einen Reaktionswechsel. Führende Zeitungen der damaligen Bundesrepublik Deutschland schrieben, dass man mit mir durchaus die Hoffnung verbinde, die SED und damit auch die DDR zu reformieren. Anfang Januar erschien dann aber in gelber Schrift der Artikel im Spiegel »Der Drahtzieher«. Neben mir wurde nach kurzer Zeit auch die Partei zum »Abschuss« freigegeben. Man meinte, weder eine reformierte SED noch mich in der politischen Landschaft zu benötigen. Dieser Artikel wurde in Leipzig gebührenfrei hunderttausendfach verteilt. Ich weiß daher, wie schwer es ist, gegen einen solchen Mainstream anzukämpfen.

Lange Zeit habe ich dann in den Medien, in der Öffentlichkeit, im Bundestag versucht, für meine Partei und mich Akzeptanz zu erringen. Irgendwann ist es gelungen. Ich erinnere mich noch daran, dass ich während des völkerrechtswidrigen Krieges der Nato gegen Serbien nach Belgrad reiste, den damaligen Präsidenten Milošević, den Patriarchen der serbisch-orthodoxen Kirche und den höchsten Vertreter des Islam in Belgrad traf. Als ich zurückkehrte, hatte ich ein noch durchaus sachliches Gespräch mit Ulrich Wickert bei den Tagesthemen der ARD. Am nächsten Tag erklärte aber Bundeskanzler Gerhard Schröder, dass ich offensichtlich die Absicht habe, nach der fünften Kolonne Moskaus nun zur fünften Kolonne Belgrads zu werden. Danach richteten sich so gut wie alle Medien gegen mich. Ich habe das erste Mal gemerkt, dass eine solche »Genehmigung« eines Kanzlers bis hinein in die Medien Auswirkungen hat. Mit einer sachlichen Betrachtungsweise diesbezüglich konnte ich nicht mehr rechnen.

Die Partei Die Linke hat sich in den letzten Jahren fehlentwickelt. Ich erinnere nur an den Abbau einer kulturellen und seelischen Ostidentität, an die Tatsache, dass nicht mehr deutlich wurde, dass wir in erster Linie die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vertreten, an Unsicherheiten in der Friedenspolitik bis hin zur desaströsen Abstimmung über den Antrag der Bundesregierung zur Beendigung des Krieges und zur Rettung von Helferinnen und Helfern der Bundeswehr, an mehrere öffentliche denunziatorische Auseinandersetzungen zwischen Mitgliedern und Gruppierungen der Partei und an die Tatsache, dass für die Öffentlichkeit nicht mehr unterscheidbar war, was eigentlich Mehrheits- und was eigentlich Minderheitsmeinungen in dieser Partei sind.

Das Bundestagswahlergebnis 2021 war ein Desaster. 4,9 Prozent der Zweitstimmen! Und was erlebe ich danach? Der Landesparteitag in Sachsen-Anhalt zum Beispiel beschäftigte sich mit so wesentlichen Fragen wie der Trennung von Amt und Mandat, der Dauer von Mandatsträgern in Parlamenten und wählt bestimmte Persönlichkeiten mit 50, … Prozent. Weder wird der Bedeutungsverlust noch die Existenznot der Partei zur Kenntnis genommen, es findet auch keine Konzentration auf das Wesentliche statt. Das ist Selbstaufgabe in Höchstform.

Der »Spiegel« hat all das mitbekommen und ist der Auffassung, dass unsere Partei nicht mehr benötigt wird. Dieses Mal ist es nicht »Der Drahtzieher«, sondern ein Sexismus-Vorwurf und damit im Zusammenhang schwere Anwürfe gegen die Vorsitzende der Partei, Janine Wissler. Nun haben sich Rechtsanwalt Johannes Eisenberg und ich mit den Vorgängen beschäftigt. Janine Wissler kann man keinen Vorwurf machen. Nicht sie hat betrogen, sie wurde betrogen. Sie konnte aber nicht für die Entlassung ihres früheren Partners als Mitarbeiter der Fraktion sorgen, weil ihr dann vorgeworfen worden wäre, ihre Funktion zu missbrauchen, um jemanden aus privaten Gründen zu entfernen. Selbstverständlich dürfen wir Sexismus – in welcher Form auch immer – in unserer Partei nicht zulassen. Nur geht es dem »Spiegel« wirklich darum? Nein! Man möchte eine innere Zerfleischung der Partei fortsetzen. Und es scheint ja auch zu funktionieren.
Ich sehe nur folgende Möglichkeit, die Existenz der Partei zu retten, ihre Bedeutung zu erhöhen. Wir brauchen einen inhaltlichen Neuanfang, eine Konzentration auf wichtige politische Fragen, müssen Nebenfragen und Nebenschauplätze jetzt ausklammern, müssen eindeutig klären, welche Interessen wir wie zu vertreten haben und dann gemeinsam (!) und mit Leidenschaft kämpfen.

Wir brauchen also eine Wiedergewinnung der kulturellen und seelischen Ostidentität, eine Konzentration auf die Frage der sozialen Gerechtigkeit und der Guten Arbeit, eine Verankerung der sozialen Verantwortung bei der ökologischen Nachhaltigkeit und eine realistische Friedens- und Außenpolitik. Als Partei des Völkerrechts muss man das gesamte Völkerrecht akzeptieren und respektieren und nicht nur die Teile, die einem passen, wie es die Regierung und die anderen Parteien machen. Der völkerrechtswidrige Krieg der Nato gegen Serbien und der völkerrechtswidrige Krieg der USA gegen den Irak haben uns politisch bestätigt. Der völkerrechtswidrige Krieg Russlands gegen die Ukraine hat uns mehr als durcheinandergeschüttelt, nicht bestätigt. Wir müssen das zur Kenntnis nehmen und dürfen nicht versuchen, alte Einstellungen unter Umschiffung dieser Tatsache irgendwie hinüberzuretten.

Und wenn wir Krieg in Europa haben, wenn die Armut weltweit dramatisch zunimmt, andererseits der Reichtum in wenigen Händen drastisch wächst, der Klimawandel eine Gefährdung für die Menschheit darstellt, aber nur sozial verantwortlich gestoppt werden kann, Freiheit und Demokratie durch rechtsextreme und nationalistische Entwicklungen gefährdet werden, wir von einer Gleichstellung von Frau und Mann, von Ost und West, von Rentengerechtigkeit und von einer Chancengleichheit für alle Kinder und Jugendlichen bei Bildung und Ausbildung, beim Zugang zu Kunst und Kultur in unserem Land noch meilenweit entfernt sind, dann braucht es dringend eine linke, inhaltsstarke, solidarische, demokratische, leidenschaftliche, kämpferische und entschlossene Partei.

Dieser Situation wird unsere Partei zurzeit bei Weitem nicht gerecht. Ich hoffe, dass es auf dem Parteitag gelingt, einen Neustart zu organisieren, der es ermöglicht, so zu werden. Wir müssen hin zu wichtigen Fragen, weg von Nebensächlichkeiten.

Gegenwärtig bin ich an die Situation von Ende 1989/1990 erinnert. Viele meinten, dass die Partei zerbrösele, massenhaft gab es Austritte, die Untaten und Fehlleistungen der Partei – all das sprach gegen ihre Rettung. Aber es gab nicht wenige, darunter auch mich, die eine andere Auffassung hatten und in Solidarität den Kampf begannen. Eine solche solidarische Stimmung mit Leidenschaft wünsche ich mir auch jetzt.

Unsere Gesellschaft braucht dringend demokratische Sozialistinnen und Sozialisten.

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