- Politik
- Tag der Pressefreiheit
Es geht noch weiter bergab
Deutschland rutscht in der Weltrangliste der Pressefreiheit weiter nach unten. Unter besonders schwierigen Bedingungen müssen zurzeit russische Journalisten arbeiten
Es sieht nicht gut aus für die Pressefreiheit in Deutschland, lautet das diesjährige Urteil der Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG) zum alljährlichen Tag der Pressefreiheit. Erneut wurde Deutschland in der weltweiten »Rangliste der Pressefreiheit« herabgestuft und rangiert nun drei Plätze tiefer auf Rang 16 - hinter Ländern wie Litauen, Jamaika und den Seychellen. Deutschland war 2021 erstmals aus der Spitzengruppe geflogen, seitdem gilt die Lage der Pressefreiheit nicht mehr als »gut«, sondern nur noch als »zufriedenstellend«. An der Spitze der Rangliste stehen Norwegen (1), Dänemark (2) und Schweden (3).
ROG macht vor allem drei Faktoren für den Abstieg verantwortlich: Gesetze, die Journalist*innen und ihre Quellen gefährden würden; abnehmende Medienvielfalt; Gewalt bei Demonstrationen. Besorgniserregend ist vor allem die große Anzahl gewaltsamer Angriffe auf Journalist*innen und die Feststellung, dass diese mit 80 verifizierten Fällen so hoch wie noch nie sei seit Beginn der Dokumentation im Jahr 2013. Bereits im Vorjahr sei mit 65 Fällen ein Negativrekord erreicht worden, so die Organisation.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Wer sind die Angreifer? Laut ROG ereigneten sich die meisten Angriffe (52 von 80) bei Protesten sogenannter Querdenker gegen Corona-Maßnahmen, »an denen regelmäßig gewaltbereite Neonazis und extrem rechte Gruppen teilnahmen«, schreibt ROG. Die Angreifer bespucken und treten Journalist*innen, belästigen sie akustisch mit Fußballfanfaren oder schlagen sie gleich bewusstlos. Und der Staat unternimmt offenbar nicht viel, um Medienschaffende in ihrer verfassungsrechtlichen Aufgabe zu schützen: Betroffene hätten häufig über mangelnde Unterstützung durch die Polizei geklagt - oder schlimmer, die schlägt selbst auf Journalist*innen ein: Zwölf Angriffe der Polizei auf die Presse habe ROG dokumentiert, dazu wird eine hohe Dunkelziffer vermutet.
Was mutigen Journalisten und Investigativreportern passieren kann, wenn sie ihren Verfassungsauftrag ernst nehmen, um die Öffentlichkeit umfassend zu informieren, zeigt das Beispiel von Julian Assange. Nach der Veröffentlichung von Dokumenten über US-Kriegsverbrechen musste er fliehen und sitzt derzeit in Großbritannien in Haft; die USA versuchen, seine Auslieferung zu erwirken. »Die fortgesetzte Inhaftierung durch Großbritannien und die politische Verfolgung des Journalisten und WikiLeaks-Gründers Assange durch die US-Regierung sind ein verbrecherischer Akt und ein beispielloser Angriff auf die Pressefreiheit«, erklärte Sevim Dagdelen, Obfrau der Fraktion Die Linke im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags. Sie forderte die Bundesregierung auf, dazu Stellung zu beziehen. Assange stehe »für die Freiheit des Wortes, für die Freiheit der Presse und die Freiheit von uns allen schlechthin«.
Besonders gefährdet sind Journalist*innen in kriegerischen Konflikten wie derzeit in der Ukraine. ROG dokumentiert jeden Angriff auf Medienschaffende. Der letzte bekannte Fall vom 28. April betrifft Anastasia Wolkowa, Journalistin des staatlichen ukrainischen Fernsehsenders Dom TV: Sie geriet in Rubizhne in der Region Luhansk unter russischen Artilleriebeschuss - trotz kugelsicherer Weste und einem Helm mit der Aufschrift »Press«. Fünf Minuten, nachdem ihr Fernsehteam eingetroffen war, um eine bevorstehende Evakuierung von Zivilisten zu filmen, wurde genau der Ort beschossen, an dem sie sich befand, schreibt ROG.
Der erste Angriff auf Journalisten erfolgte am 26. Februar: Stefan Weichert und Emil Filtenborg Mikkelsen, zwei Reporter der dänischen Zeitung Ekstra-Bladet, wurden durch Schüsse eines Unbekannten in der nordöstlichen Stadt Okhtyrka schwer verletzt. Sie wurden in einem nahe gelegenen Krankenhaus behandelt und einige Tage später nach Dänemark evakuiert, so ROG. Zwischen diesen beiden Daten liegen Angriffe auf mindestens 40 Journalisten.
Während die ukrainischen Journalist*innen unter Lebensgefahr über den Krieg berichten, sind ihre russischen Kolleg*innen staatlichem Druck ausgesetzt. Journalist*innen und Aktivist*innen in Russland beklagen seit Kriegsbeginn verstärkte Repressionen. Ein neues Mediengesetz sieht bis zu 15 Jahre Haft für die Verbreitung angeblicher Falschnachrichten über Russlands Streitkräfte vor. Selbst der Krieg darf in Medienberichten nicht so heißen. Zahlreiche Medien wurden blockiert oder stellten ihre Arbeit ein - darunter der beliebte Radiosender Echo Moskwy. Auch die bekannte kremlkritische Zeitung »Nowaja Gaseta« hat ihr Erscheinen unter dem Druck der Behörden ausgesetzt. Ins Ausland geflohene Redakteure des Blatts gründeten die Nachrichtenseite »Nowaja Gaseta. Europa«. In Russland selbst wurde die Seite umgehend blockiert.
Ukrainische und russische Journalist*innen suchen Schutz auch in Deutschland. Laut ROG-Geschäftsführer Christian Mihr sind in der Ukraine selbst noch relativ viele ukrainische Journalist*innen tätig, anders sei die Lage in Russland. »Wir erleben dort fast einen regelrechten Zusammenbruch der unabhängigen Medienlandschaft.« Komplette Redaktionen würden das Land verlassen, so Mihr. »Die Bundesregierung muss Visummöglichkeiten schaffen, die eine Weiterarbeit hier in Deutschland ermöglichen.« Für existierende Redaktionen, die weiterarbeiten wollen, oder für hier zu gründende Medien. »Man kann nicht auf eine EU-Lösung warten«, sagte Mihr. Auf der Rangliste der Pressefreiheit belegt die Ukraine Platz 106, Russland Platz 155 von 180 Ländern.
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