Ein Monatslohn für einen Fisch

Im Nachkriegssyrien leiden die Menschen unter den hohen Preisen für Lebensmittel

  • Karin Leukefeld, Damaskus
  • Lesedauer: 9 Min.

In einer Filiale der staatlichen syrischen Handelsbank in Qasaa, einem Stadtteil von Damaskus, herrscht dichtes Gedränge. Hinter hohen Schaltertischen sitzen Bankangestellte vor ihren Computern, tippen Namen und Zahlen in Formulare, um die Kunden dann weiter zum nächsten Schalter zu schicken. Manche warten geduldig, andere drängeln sich wenig rücksichtsvoll nach vorne. Manche laufen suchend mit ihren Formularen von einem Schalter zum nächsten, bis sich einer der Angestellten ihrer annimmt und ihnen den Weg zeigt.

Bei der Handelsbank werden Gebühren für Strom oder Wasser, Steuern oder die Versicherung für das Auto einbezahlt. Aber auch Pensionen werden abgehoben oder Sonderzahlungen an Familien von Gefallenen oder Verletzten. Eine Frau mittleren Alters, das Kopftuch eng umgebunden, erzählt leise, dass sie die Pension für ihren Vater abhole. Sie komme alle zwei Monate. Für ihren Vater sei der Weg zu mühsam geworden. In den Kriegsjahren sei die Pension einige Male an die Inflation angepasst worden. Heute bekomme ihr Vater 8000 Syrische Pfund im Monat, fast doppelt so viel wie vor dem Krieg. Seine monatliche Pension damals entsprach etwa 80 US-Dollar, heute ist dieses Geld wegen der Inflation nicht mehr als 3 US-Dollar wert. Alle zwei Monate hole sie nun 16 000 Syrische Pfund ab, sagt die Frau mit gesenkter Stimme: »Das reicht gerade für eine Mahlzeit.«

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Seit Beginn des Krieges 2011 hat sich die einst stabile wirtschaftliche Situation im Land kontinuierlich verschlechtert. Die Folgen der Kämpfe und die anhaltenden Sanktionen der Europäischen Union und der USA tragen zur Auflösung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der syrischen Gesellschaft bei. Zeichen dafür sind das Schwinden einer stabilisierenden Mittelschicht, ein blühender Schwarzmarkthandel und die zunehmende Korruption. Nach Angaben des Welternährungsprogramms (WFP) gelten mittlerweile rund zwölf Millionen Menschen als arm und sind auf Lebensmittelhilfen angewiesen, also etwa 55 Prozent der syrischen Vorkriegsgesellschaft.

Der Alte Souk

Während des Fastenmonats Ramadan füllen sich die Märkte in der Hauptstadt erst am Nachmittag. Dann strömen die Menschen an den Ständen mit Obst und Gemüse, Käse, Fisch und Süßigkeiten vorbei, um fürs Fastenbrechen am Abend einzukaufen. Der Alte Souk, Al-Souk Al-Adiq sagen die Damaszener zu dem beliebten Markt auf der Al-Ammara-Straße am nördlichen Ende der Altstadt. Früher kamen die Bauern aus dem Umland mit ihrem Obst und Gemüse, mit Hühnern, Eiern und Milch, um alles frisch anzubieten. Als der neue Großmarkt, der Souk Al-Hal in Zablatani, wenige Kilometer weiter südlich gebaut wurde, brachten die Bauern ihre Waren direkt dorthin. Auf dem neuen Markt werden heute auch die Lastwagen beladen, die Waren in den Irak oder bis nach Saudi-Arabien transportieren.

Der Alte Souk bietet alles: Erdbeeren, Kräuter aller Art, Datteln aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, Kiwis aus Tunesien, Ingwer aus China, Datteln und Granatäpfel aus Jordanien. »Die sind nicht frisch, die kommen aus dem Kühlschrank«, sagt ein Verkäufer. »Es ist jetzt keine Saison für Granatäpfel.« Die Ware aus dem Ausland sei teuer und werde von Kunden nur in sehr kleinen Mengen gekauft, sagt der Dattelverkäufer, der früher und vor allem während des Ramadans deutlich mehr Umsatz hatte. Datteln gehören zum Ritual des Fastenbrechens, doch viele Familien verzichten heute aus Kostengründen darauf.

An einem Stand gibt es Käse und Eier, die werden aus dem rund 30 Kilometer entfernt liegenden Sednaya gebracht. Früher kostete eine Palette mit 30 Eiern 250 bis 300 Syrische Pfund. Heute liegt der Preis für eine Palette bei 11 000 SYP. Am Nachbarstand gibt es Obst und Gemüse, das bis auf die ägyptischen Kartoffeln aus Syrien stammt: große Avocados von der Küste, wo auch die Orangen herkommen, Knoblauch, Kartoffeln, Gurken, Tomaten, Zwiebeln, Auberginen, Salat. Alles ist kunstvoll aufgeschichtet und ausgestellt.

Tomaten aus dem Hauran

Hier verkauft Abu Ahmad, der 15 Jahre alt war, als er 2003 seine Arbeit am Gemüsestand anfing. Gerade ist er dabei, aus einem großen, weit ausladenden Korb mit Tomaten die weichen und weniger ansehnlichen Exemplare auszusortieren. Er arbeite sieben Tage die Woche von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, erzählt er nebenbei. Sein Tageslohn betrage 15 000 SYP, das reiche aber für ihn, seine Frau und drei Kinder nicht aus. Auch während des Krieges habe er hier gearbeitet, erzählt er. 2009 habe er seinen Wehrdienst abgeschlossen und sei glücklicherweise während des Krieges nicht wieder eingezogen worden.

Die Tomaten sind mit 3000 SYP pro Kilo sehr teuer, weil sie unter Plastikplanen bei Banias an der Küste angepflanzt worden seien. Von dort müssten sie nach Damaskus transportiert werden, und das sei teuer: »Diesel ist teuer, aber auch der Dünger, der im Ausland eingekauft werden muss, ist teuer«, erklärt Abu Ahmad, der Vater von Ahmad. Was im Ausland gekauft werde, müsse mit US-Dollar bezahlt werden, das verteuere alles. Die saisonalen, nicht unter Planen gewachsenen Tomaten gebe es zwischen Mai und Dezember. Die kämen aus dem Hauran (Deraa). Das sei nicht weit von Damaskus, und so seien die Tomaten von dort nicht nur geschmackvoller, sondern auch billiger. Als Abu Ahmad vor 19 Jahren anfing, auf dem Markt zu arbeiten, hätten die Leute Fünf-Kilo-Kisten mit Tomaten für 100 SYP gekauft, erinnert er sich. Heute kauften sie ein viertel oder vielleicht ein halbes Kilo Tomaten, mehr sei zu teuer.

Wenige Schritte weiter steht Abdul Rahman Afan vor seinem Fischgeschäft. Der Fisch sei gut und frisch, preist er die Ware an. Die Fische kommen aus Zuchtbetrieben im Ghab, einer fruchtbaren Landschaft entlang des Flusses Orontes in Idlib. Andere kommen von Fischfarmen in Anjar, im benachbarten Libanon. Auch Fische aus dem Euphrat habe er anzubieten und der Hai, der hinter ihm von der Decke herunterhängt, käme aus dem Mittelmeer bei Latakia. Lachs werde importiert und koste 50 000 SYP pro Kilo - für manche Menschen ist das ein Monatsgehalt. Vor dem Krieg sei sein Geschäft richtig gut gelaufen, erinnert er sich. Restaurants und Hotels gehörten zu seinen Kunden. Die einfachen Leute hätten drei Kilo Fisch für 100 bis 200 SYP gekauft, je nach Fischart. Doch die Zeiten sind vorbei.

Heute koste ein Kilo mindestens 18 000 SYP, kaum jemand könne sich das noch leisten. Die Menschen kauften den Fisch stückweise, oder sie kauften die kleinen, billigeren Sardinen, sagt Afan: »Und wenn sie Fisch kaufen, brauchen sie Öl, das sehr, sehr teuer geworden ist. Und sie brauchen mindestens noch Kartoffeln dazu, deren Preis auch gestiegen ist.« Er zuckt mit den Schultern. Den Fischladen hat Abdul Rahman Afan von seinem Vater übernommen, der ihn wiederum von seinem Vater geerbt hatte. Nie werde er das Familiengeschäft aufgeben, doch er überlege, den Laden hier im Alten Souk zu verkaufen und vielleicht drei, vier kleinere Läden an verschiedenen Standorten zu öffnen. Doch wer könne schon eine Milliarde Syrische Pfund aufbringen, um den Laden zu kaufen?, fragt er. Das Geschäft laufe schlecht, aber wenn er jetzt verkaufe, werde er zusätzlich Geld verlieren.

Leder und Seile

Eine der unzähligen Gassen und engen Straßen des Alten Marktes mündet in einen stillen, überdachten Gang, der an einer Mauer endet. Hier ist der Markt für Leder und Seile, hier ist der Laden von Bassam Hawary, der wie die meisten Verkäufer auf dem Alten Markt auch aus einer Händlerfamilie stammt. Sein Vater verkaufte Reifen für Autos, Zweiräder und Karren, Bassam Hawary verkauft Netze aus Leinen und Nylon. Sie würden für den Transport, zur Dekorationen oder im Sport für Hand- und Fußballtore gebraucht, erklärt er. Mit Blick auf eine Hängematte, die unter der Decke hängt, meint er, so etwas sei heute nicht sehr gefragt.

Vor 25 Jahren habe er seinen Laden eröffnet. Vor dem Krieg seien die Geschäfte gut gelaufen. Selbst während des Krieges habe er noch viel verkaufen können, aber nun sei die Situation so schlecht wie nie. Er habe das Geschäft aufgebaut, damit seine Söhne es einmal übernehmen könnten. Aber die lebten heute in Abu Dhabi, in den Vereinigten Arabischen Emiraten: »Hier finden sie keine ordentliche Arbeit mehr.«

Die Preise seien enorm gestiegen, sagt Hawary. Es gäbe nicht mehr so viel syrische Baumwolle wie vor dem Krieg, der Transport sei wegen der Benzin- und Dieselknappheit sehr teuer geworden. »Dabei haben wir genug Öl, um das ganze Land zu versorgen! Wir haben Öl, Baumwolle und Weizen - und alles ist in unserem Land.« Aber heute sind die Ressourcen nicht mehr für ganz Syrien da.

Die größten Baumwollanbaugebiete im Euphrat-Tal stehen unter US-Besatzung und kurdischer Kontrolle. Die Baumwolle gelangt nur zu einem Bruchteil in die verarbeitenden Textilfabriken nach Aleppo, was letztlich zu hohen Preisen führt. Dort wird heute vor allem die Baumwolle aus Al-Ghab, dem fruchtbaren Orontes-Tal verarbeitet, das jahrelang von Islamisten - mit Unterstützung der Türkei - besetzt war. Die meiste Baumwolle, die heute in Syrien verarbeitet wird, kommt ebenso wie die Nylonseile aus China. Und muss mit Devisen bezahlt werden. Syrien aber ist verschuldet und verfügt kaum über ausländische Devisen.

Umm Issa, die Netzknüpferin

Die Netze, die Bassam Hawary in seinem Laden verkauft, werden in Yabroud, rund 80 Kilometer nördlich von Damaskus noch von Hand geknüpft. Verantwortlich für die Produktion ist Umm Issa Barakati, die die Aufträge an weitere fünf Frauen verteilt. Sie selber habe die Arbeit von ihrer Mutter gelernt, damals sei sie sechs Jahre alt gewesen. »Und, was meinen Sie, wie alt ich heute bin«, schmunzelt sie. »Heute bin ich 79 Jahre alt und habe nur einige Probleme mit meinen Knien.« Mehr als hundert Jahre seien die Frauen aus ihrer Familie für ihre Arbeit bekannt. Damals seien auch Netze für die Jagd geknüpft worden, keine Maschine könne diese Arbeit machen wie sie und die anderen Frauen, ist sie überzeugt.

Umm Issa lebt mit der Tochter und deren Familie zusammen. Die Tochter habe einen Laden, sie koche und putze die Wohnung und helfe, wo sie könne, erzählt sie stolz. Auch der Sohn habe Arbeit, fügt sie hinzu. »Ich danke Gott, dass wir gut leben können.« Der einfache Arbeitsplatz ist im Empfangszimmer. Auf einem Holzbock ist die Baumwolle aufgerollt. Vor ihr, auf einem Stuhl, ist ein weiterer Bock befestigt, auf dem das fertig geknüpfte Netz aufgerollt ist, das sie mit einem Holzschiffchen knüpft. Am Tag schaffe sie etwa fünf Meter Netz, sagt Umm Issa. Dafür erhalte sie 2000 SYP und sei zufrieden. Gerade habe sie über Bassam Hawary einen Auftrag aus Saudi-Arabien erhalten: »Wir sollen Vorhänge für Türen knüpfen, 1,70 Meter breit und 2,25 Meter hoch. Wir warten auf die Seile, um mit der Arbeit beginnen zu können.«

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