Wahrheit ist das, was man ständig sieht

»Vom Untergang«: Leonhard F. Seidl erzählt von Wahn und Gewalt zu Beginn der Weimarer Republik

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 4 Min.

In einer kurzen Nachbemerkung zu seinem neuen Roman bemerkt der Journalist, Schriftsteller und Dozent für Kreatives Schreiben Leonhard F. Seidl, dass sich sein Text an viele historische Ereignisse anlehne, »wie die Pläne zur Lenkung der Presse durch Oswald Spengler, Georg Escherich, Hugo Stinnes und Nikolaus Cossmann und den Streik der Glasarbeiter*innen in Fürth 1922«.

Seidl versetzt seine Leser*innen in die Anfangsjahre der Weimarer Republik, in eine unsichere Zeit, da der Krieg noch allgegenwärtig ist, die vermeintliche Schmach des Versailler Vertrags vielen Deutschen ständiges Unbehagen bereitet und auf der Straße wie in Hinterzimmern von Gasthäusern und anderswo handgreiflich ideologische Auseinandersetzungen ausgetragen werden.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Seidls Roman ist dabei ein im besten Wortsinn historischer Roman; zudem einer, der sich der ästhetischen Mittel der beschriebenen literarischen Epoche, der Neuen Sachlichkeit, zu bedienen weiß. Ins eigene Erzählen integriert Seidl Fremdmaterial, dessen Quellen dankenswerterweise als Anhang mitgeliefert werden. So zitiert er nicht nur aus Verhandlungsprotokollen des Reichstags sowie aus verschiedenen biografischen Quellen, sondern auch aus Oswald Spenglers Schriften.

Zu Beginn der 20er Jahre gärt und rumort es im Deutschen Reich, es geschehen Fememorde durch die extreme Rechte, die teilweise vertuscht werden, verübt von versprengten Frontsoldaten, die die Demokratie bekämpfen. Geistige Brandstifter gießen zusätzliches Öl ins Feuer. Einer von ihnen ist, wie Seidl schreibt und dabei die Selbsteinschätzung Oswald Spenglers übernimmt, jemand, der sich als »Deutschlands berühmtester lebender Philosoph« empfindet.

Das ist einer, der angstgetrieben (»Wenn ich«, zitiert Seidl Spengler, »mein Leben betrachte, ist es ein Gefühl, das alles, alles beherrscht hat: Angst.«) auf die Idee verfällt, mittels einer illustren kleinen Schar völkisch-nationaler Gefolgsleute einen Plan zu entwickeln, wie ein Monopol der Rechtspresse organisiert werden könnte. Dies vor dem Hintergrund der leider oft zutreffenden Erkenntnis, dass das einfache Volk, vulgo: das Proletariat, vor dem sich dieser Philosoph so fürchtet, alles glaubt, was in so einer Zeitung steht: »Das Volk«, lautet ein Eintrag aus Spenglers Hauptwerk »Der Untergang des Abendlandes«, »liest die eine, ›seine‹ Zeitung, die in Millionen Exemplaren täglich in alle Häuser dringt, die Geister vom frühen Morgen an in ihren Bann zieht, durch ihre Anlage die Bücher in Vergessenheit bringt, und, wenn eins oder das andre doch einmal in den Gesichtskreis tritt, seine Wirkung durch eine vorweggenommene Kritik ausschaltet. Was ist Wahrheit? Für die Menge das, was man ständig liest und hört.« Ähnliches lässt sich kurze Zeit nach Spengler auch wieder in Heideggers »Sein und Zeit« finden, im Blick auf das, was der Schwarzwälder Philosoph als »Gerede« und »Geschreibe« in der profanen Welt des »Man« charakterisiert.

Zwar scheitern die hochtrabenden Pläne der Rechtsausleger um Spengler, doch die Saat der Gewalt geht trotzdem auf, wie Seidl auf der zweiten Ebene seines Romans zeigt, der im proletarischen Milieu angesiedelt ist und die Hintergründe der Ermordung des jungen Sozialdemokraten Max Schmidtill durch völkische Nationalisten erzählt. Zugleich bindet Seidl alltagskulturelle und modische Phänomene der 20er (Stichwort etwa »Neue Frau«) in seine historische Erzählung ein.

Was ihn oder seinen Verlag allerdings bewogen hat, diesen Roman als Kriminalroman zu bezeichnen, erschließt sich bei der Lektüre nicht - es sei denn, man verstünde darunter das, was Edgar Allan Poe in seiner berühmten Erzählung vom entwendeten Brief in die Formel gekleidet hat, dass das beste Versteck das offensichtliche sei. Mit anderen Worten: Die kriminellen Verhältnisse im Deutschland zu Beginn der Weimarer Republik sind derart offenkundig, dass sie jeder eigentlich hätte sehen müssen - ohne sie freilich wirklich zu begreifen. Folgerichtig schließt Seidls letztes Kapitel mit Hitlers Bürgerbräukeller-Auftritt am 8. November 1923.

Leonhard F. Seidl: Vom Untergang. Nautilus, 248 S., br., 18 €.

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