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Durch Ruths Brille
Mit dem VR-Spektakel »Berlau :: Königreich der Geister« wirft das Berliner Ensemble Schlaglichter auf eine Frau an Brechts Seite
Spricht man über Bertolt Brecht, wirft schnell irgendjemand ein paar Allgemeinplätze in den Raum. Auch das gehört zum Schicksal eines Klassikers. Es ist heute opportun, auf den vorgeblichen Brecht’schen Machismo zu verweisen. Der Mann sei ein Patriarch gewesen, habe seine Mitarbeiterinnen, die mitunter seine Geliebten wurden (oder war es umgekehrt?), ausgebeutet. Das Leben der Dichter, zumal das intime, ist uns meist verborgen; kaum etwas können wir mit Gewissheit sagen über den weltberühmten Sohn aus Stratford, wenig wissen wir über die Tragöden der Antike zu berichten. Aber über Brecht können wir beflissentlich Auskunft geben: mit welcher Frau er wann geschlafen hat, welche Liebschaft eine andere ablöste, welches erotische Poem welcher Schönheit galt. Wem literarische Peepshows nicht behagen, der muss so einige Seiten überblättern in den dicken Biografien.
Recht selten wird darauf verwiesen, welche Frauen er gefördert, an welchen fremden Werken er stillschweigend mitgearbeitet hat. Und zynischerweise wird auch oft verschwiegen, dass der denunzierte Brecht’sche »Harem« ebenfalls eine Arbeits‑, nicht zuletzt aber auch eine existenzsichernde Schicksalsgemeinschaft von Menschen auf der Flucht vor dem todbringenden Faschismus war.
Eine dieser Frauen an Brechts Seite war die dänische Kommunistin Ruth Berlau. Eine beeindruckende Persönlichkeit, die Brecht erstmals 1933 während seines Svendborger Exils begegnete – und fortan mit Unterbrechungen an seiner Seite blieb. Sie war Schauspielerin und Regisseurin, Schriftstellerin und Fotografin. Schweden und Finnland, Sowjetunion und USA hießen die Stationen, die sie mit Brecht und Weigel teilte. Dann gingen sie gemeinsam nach Ostberlin, wo sie den Theaterrevolutionär um fast 18 Jahre überlebte.
Am Donnerstag brachte das Berliner Ensemble eine Arbeit des Kollektivs Raum+Zeit mit dem Titel »Berlau :: Königreich der Geister« auf die Bühne. Auf die Bühne? Im Zwölf-Minuten-Takt können sich Zuschauerinnen und Zuschauer einzeln in eine Parallelwelt führen lassen, geschaffen als Hybrid aus Virtual-Reality-Installation (VR) und Live-Performance. Schwarz gewandete Frauen weisen stumm die Richtung und überreichen die VR-Brillen. Schon bekommt die Verwandlungskunst eine ganz neue Qualität. Nur zwei Handgriffe sind erforderlich, schon befindet man sich andernorts: auf oder vor der Bühne des Berliner Ensembles etwa. Ein ungeduldiger Brecht, gespielt von Martin Rentzsch, erscheint virtuell und spricht zu uns, die wir für einen Moment zur Berlau werden.
Schwindel bleibt nicht aus bei dieser Form von immersivem Überwältigungstheater. Bald schon wird alles schwarz. Eine Hand greift nach der unseren, die andere liegt steuernd auf unserer Schulter. Angekommen in einem beengten weißen Raum, mit Bett und Waschbecken ausgestattet, wissen wir uns bald in einem Krankenzimmer der Berliner Charité, jenem, in dem die Berlau ihren Tod gefunden hat. »Nimm die Brille ab«, heißt es, und die Stimme fühlt sich plötzlich sehr nah an. Eine Schauspielerin sitzt uns gegenüber, keine Erscheinung aus dem virtuellen Irgendwo, sondern eine leibhaftige Person, die nur für uns das Spiel aufnimmt. Bald schon wird klar: Wir werden in der Rolle Brechts konfrontiert.
Susanne Wolff, Esther Hausmann und die erstaunlich kraftvolle Amelie Willberg verkörpern in diesem 70-minütigen Spektakel Ruth Berlau in verschiedenen Lebensabschnitten für ihr Einzelpublikum. Hier wird keine Biografie medial aufbereitet, es sind Schlaglichter auf ein Leben, die in dieser soghaften Darbietung erzählt werden. Die junge Ruth, die dem Geliebten Brecht heiter-aufmüpfig in Dänemark entgegentritt. Die Verzweifelt-Trotzige, die das gemeinsame Kind mit dem Dichter aus Augsburg in den USA verloren hat. Die Flehende, die in Ostberlin die letzte Bindung zu Brecht zerbrechen sieht.
Diese Art von immersivem Kunsterlebnis zieht den Zuschauer wortwörtlich in den Bann. Man ist auf eigentümliche Weise involviert. Beklemmung kommt auf. Das Team von Raum+Zeit weiß, wie eine Wirkung zu erzielen ist. Aber doch etwas ratlos torkelt man aus der Vorstellung. Wurde nicht an diesem Haus, an Brechts Berliner Ensemble, einmal ganz anders über die Aktivierung des Publikums nachgedacht? Gerade nicht durch emotionale Teilhabe, sondern durch die szenische Darstellung von sozialen Verhältnissen und von menschlichen Haltungen. Was löst diese theatrale Reise in uns aus? Abgesehen von dem, worum es Brecht am wenigsten ging: um Mitleid.
Das Spektakel ist zunächst ein Experiment. Brecht war gelegen an der Entwicklung eines »Theaters des wissenschaftlichen Zeitalters«. Gewiss, er hätte seine Freude gehabt an den technologischen Möglichkeiten. Allerdings – die Illusionskunst wäre ihm suspekt geblieben. In einem nächsten Schritt müsste es darum gehen, diese betäubenden Täuschungen zu unterlaufen.
Nächste Vorstellungen: 6., 7., 8., 9. und 10.5.
www.berliner-ensemble.de
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