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Jenseits von Kalamazonien
Bernd Wagners »Verlassene Werke« gewährt Einblick in die Künstlerszene vom Prenzlauer Berg und in das Leben eines ost-westlichen Grenzgängers
Mehr Zeit als am Schreibtisch verbrachte Bernd Wagner bei den Durchwanderungen Berlins, das ihm »eine Stadt ohne Geheimnis« ist und ihm in Stille ihre »große Zartheit« empfinden lässt. Im Wanderschritt kommt er von der Wolliner zur Friedrichstraße und hinaus in den Pankower Bürgerpark, steigt hinter dem noch öden Schlossplatz die Stufen am Palast der Republik hinab, kommt von der eingemauerten Spree zum Monbijoupark und zum dunklen Viertel, das sich parallel zur Grenze hinzieht. Aus der Druckerei in seinem Hinterhof in Weißensee, dem »ungemachten Bett Berlins«, trat Untergrundliteratur den Weg ins politische Leben.
Schriftsteller, die er immer wieder besuchte, setzt er in lebendige Szenen: Als er gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestieren wollte, erfuhr er von Sarah Kirsch, die Liste sei bei dem im Block gegenüber wohnenden Klaus Schlesinger; von Karl Mickel, dem »Verfasser formvollendeter Verse voller Widerhaken«, wurde er zum Tischtennismatch herausgefordert; zur Harzwanderung lud ihn Richard Pietraß ein. Nach Kirschs Weggang übernahm »äußerst diskret« Paul Wiens seine Mentorschaft für den Schriftstellerverband. Lesungen von Elke Erb, Brigitte Struzy, Hanns Löffler hörte er im schlossähnlichen Gebäude des Aufbau-Verlags. Seine Meinung über Peter Hacks, Christa Wolf, Michael Meinicke, Friedemann Berger, Anna Seghers, Franz Fühmann, Erich Arendt und andere ist zu erfahren. Eine intime Schriftstellergemeinschaft nannte sich in Anlehnung und im Unterschied zur berühmten westdeutschen »Gruppe 47« witzigerweise »Gruppe 46«.
Die Zeitschrift »Mikado«, die der Prosaist Wagner, der Lyriker Uwe Kolbe und der Dramatiker Lothar Trolle herausgegeben haben, adelte Adolf Endler als »Sinn und Form des Underground«, dessen »eherne Speerspitze« waren die Künstler um Hans Scheib: »wenn Anatol Erdmann auf seine charakteristische Weise den Rotz in der Nase hochzog, hörte es sich wie das allein hörbare Zeichen eines ansonsten stummen Schluchzen an, das das ganze Land durchschauerte.« Von »der unaufhörlichen Abwanderung der Poeten und Künstler in Richtung Westen«, schrieb Endler in »Tarzan am Prenzlauer Berg« und klagte Wagners »Lied eines Zurückgebliebenen«: »Wenn ich ein Vöglein wär / oder ein Visum hätt / flög ich zu dir. // Da ich kein Rentner bin / und keine Schwimmerin / bleib ich allhier.«
Als Fundament liegt die Biografie Bernd Wagners diesen Aufzeichnungen zugrunde, welche er seit 1976 bis Heiligabend 1989 in zwei Teilen (bis 1985 in Ost- danach in West-Berlin) geschrieben hat und die er »Verlassene Werke« nannte. Sind damit Werke gemeint, die der Schriftsteller verließ und unvollendet aufgab oder in denen nichts mehr zu tun war, wie in den verlassenen Werken ringsumher? Mit einem poetischen Bild gibt Wagner dem Titel aber einen ganz anderen Sinn.
Die Fülle der Texte folgen in loser und kunstvoller Struktur und auf verschiedenen Stilschichten, manchmal in Berliner und sächsischem Dialekt. Wagners Humor steigert seine Sprache, etwa wenn der attentatsverdächtige Autor in Italien leider nicht mehr den Ausweis des Schriftstellerverbandes der DDR vorzeigen kann, um seine Harmlosigkeit beweisen zu können. Eine von den reichhaltigen Kurzgeschichten berichtet vom »Neuen Deutschland« als »Verdummungsinstrument«, das er als Postbote vielfach zustellte, sogar bei einem privaten Kohlenhändler. Vermutlich, weil der Wortschatz »reicher als gedacht war«?
Textfragmente aus den »Sudelbüchern«, miniaturisierte Gedankensplitter, Sinnsprüche, poetische Verdichtungen, zuweilen mit automatischer Methode geschrieben, beobachtete Episoden, einige Zeichnungen und Textbilder mit collagierten ausgeschnittenen Wörtern, die er »Gazetten« nannte (im Abdruck schwer zu lesen), machen das Buch – wie er wollte – »reicher, umfassender und konkreter«. Verbunden wird alles von einer sich über die Jahresgliederung hinweg fortsetzenden Ich-Erzählung. Wer sich aus gattungstheoretischen Erwägungen bei den Aufzeichnungen, weil sie im Dokumentarischen gegründet sind, nicht für die Einordnung als Roman entscheiden kann, dem sei die Einsicht Bernd Wagners entgegengehalten: »Die Wirklichkeit vermag durchaus ohne größere Korrekturen dichterische Qualitäten zu entfalten«. Sein Realismus bekommt durch die Vielzahl festgehaltener Träume den eigenen Charakter in bildhaft großen Steigerungen, wie der Traum vom Menschenopfer, das nach alten Riten dem Fundament der Berliner Mauer Bestand sichern sollte, doch der Säugling wird mit eigenem Mut und der Kunst der Ärzte gerettet, aber die Zukunft der Mauer nicht.
Selbst ein Besuch in West-Berlin, wo die Distanz zur westlichen Kultur aufbrach, verhinderte nicht den Schritt, sich jenseits von »Kalamazonien« zu begeben. Denn die Gesellschaft der DDR hat ihm »nichts mehr zu bieten: keine Aufgaben, keine produktiven Herausforderung«. Als er mit Rita in West-Berlin eintraf, war ihm die Welt fremd wie das »vom Spülmittel quietschende stumpfe Geschirr«. Er fühlte sich als Frischimport mit Story willkommen, und die Schriftsteller und Lektoren sind weniger Gefährten als Konkurrenten auf dem Literaturmarkt. Die konnten 20 Minuten ohne Substantielles reden, denn es ging nicht um eine wirkliche Debatte, sondern um die Brillanz im Auftreten vor der Kamera. Dagegen weht bei den Spaziergängen zur Mauer, selbst zur Wohnung Kreuzbergstraße, »heimatlicher Wind« herüber. Trennungen führten zu wehmütigen, aber nicht wehleidigen Alleinsein und zu Wiederbegegnungen. Die geschiedene Frau mit den Töchtern traf er in Budapest. Wegen ihrer Sehnsucht, nach Griechenland zu kommen, bereitet ihm seine Möglichkeit dazu keine Freude.
Eng verbunden ist er mit dem Maler Peter Herrmann, »der auch mit Pinsel und Stift zu erzählen verstand«. Die Wonnen der Liebe mit der jungen Geliebten aus Australien, beglücken Wagner. 1989 wäre er an dem Umbruch im Osten gern dabeigewesen. Die Demonstrationen über den Leipziger Ring zerstörten seinen Zweifel am künftigen Erfolg, da sie sich auch gegen das Lumpenproletariat durchsetzten. Wagner fordert eine Gesellschaftskritik, »eine Kritik der Beherrschten, ihrer ignoranten Dummheit, ihrer Beschränkung auf Eigennutz und kleinlichen Vorteil«.
Bernd Wagner hat vieles freigelegt und einen Schatz zur Kulturgeschichte Berlins gehoben. Sein ehrliches Buch, das auch bei kritischer Betrachtung fair bleibt, erzählt mit klarer Kritik an nationalistischem und rassistischem Denken und voll Mitgefühl und tiefer Menschlichkeit von gestrandeten Menschen, denen er sich mit »Arbeitslosenhilfe und den mageren Honoraren« verwandt fühlt. Diese Werke habe ich bis zum Ende, dem offenen Brandenburger Tor, einem historischen Saytyrspiel und der Hoffnung, die Liebe zu Marina solle dauern, nicht verlassen.
Bernd Wagner: Verlassene Werke. Verlag Faber & Faber, 608 S., geb., 26 €.
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