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Bitte aussteigen – Weiterfahrt ungefährlich
Den Werbeballon der Zeitung »Die Welt« beobachtet Olga Hohmann von ihrem Küchenfenster aus. Kolumnen schreibt sie lieber für das »nd«.
Von meinem Küchenfenster in Kreuzberg 61 sah ich jeden Tag mehrmals den zur Tageszeitung »Die Welt« gehörenden Heißluftballon auf- und absteigen. Der Ball wies alle Attribute auf, die die »echte Welt«, also die, auf der der Heißluftballon sich bewegte, ebenfalls aufwies – rund, blau, schwebend. Dass er dazu »bezeichnet« war, hielt ich anfangs für eine Art Gedächtnisstütze, die uns sagen wollte, worum es sich bei der Darstellung handele – ich identifizierte ihn zuerst nicht als Werbeobjekt der Tageszeitung.
In meiner Kindheit hatte mein Vater mir beigebracht, meine Lehrerinnen subtil danach zu fragen, welche Tageszeitung sie läsen. Es war seine Strategie, sich vermittelt durch mich (als unwissende Botin) Zugang zur politischen Gesinnung der jeweiligen Lehrerin zu verschaffen. Seine Bewertung floss dann sofort in meine persönliche Bewertung der betreffenden Autoritätsperson ein. Ich erinnere mich, dass ich ihm nur ein einziges Mal von einer Lehrerin berichtete, die »Die Welt« las, und dass ich danach sogar meine schlechten Noten leicht süffisant belächelte. Denn, dem Urteil meines Vaters zufolge, konnte ich ihre Bewertungsmaßstäbe nicht mehr ganz für voll nehmen.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Der Welt-Ballon hat sich längst von seiner Funktion als Werbeträger emanzipiert, er ist seine eigene »Institution«, unabhängig von der Zeitung, zu der er gehört – und zeigt doch die Hybris des Blattes, indem sie die »ganze Welt« für sich beansprucht. Aus demselben Küchenfenster, aus dem heraus man den Welt-Ballon sah, blickte man auch auf ein neokubistisches Wandgemälde – eine verputzte Berliner Brandmauer, die die Fensterwand gegenüber spiegelte und verzerrte. Die »falschen« Fenster auf der Mauer verdoppelten die Behauptungsgeste des Welt-Ballons, waren in ihrem Anspruch aber wesentlich bescheidener. Zwei unterschiedliche Repliken in einem Bildausschnitt.
Das einstige »neue deutschland« beanspruchte zum Glück »nur« deutschlandspezifische Berichterstattung für sich. Aber immerhin gibt es vor, dass man als Autorin entscheiden oder identifizieren kann, was »neu« ist in Deutschland – oder was »Deutschland« ist. Bevor ich anfing, für das »nd« zu schreiben, kannte ich die Zeitung nur vom Hörensagen. Auch jetzt fällt es mir noch häufig schwer, ihren ehemaligen Titel auszusprechen, denn ich bin ja eigentlich eher antideutsch sozialisiert, zumindest was die Feierkultur betrifft.
In einer einschlägigen antideutschen Kneipe in einer einschlägigen ostdeutschen Kleinstadt traf ich damals DJ Morgenroethe – die orthografische Eigenheit seines DJ-Namens war natürlich eine bewusste Entscheidung, ebenso wie man communismus (klein und mit c) schrieb. Wir standen im Flur neben dem Raucherraum, zu dem ich noch keinen Zutritt hatte – ich war noch keine 16 Jahre alt. Menschen mit Jutebeuteln gingen an uns vorbei, auf den Jutebeuteln standen Sätze wie: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Ich weiß nicht mehr, worüber wir uns unterhielten, aber es war ein gutes Gespräch, zumindest standen wir eine ganze Weile in diesem eigentlich unangenehmen Zwischenraum. Ich war beeindruckt von DJ Morgenroethe, der ein paar Jahre älter war als ich und mir, neben seiner musikalischen Karriere, auch wie ein »echter Intellektueller« vorkam.
Mehr als zehn Jahre später wurde DJ Morgenroethe mein Redakteur beim »nd«. Eineinhalb Jahre lang schickte ich ihm alle zwei Wochen eine »neue« Geschichte – nicht alle davon aus Deutschland. In gewisser Weise wusste er besser über mich und meinen jeweils aktuellen Zustand Bescheid als alle anderen Menschen in meinem Leben, abgesehen vielleicht von meinem, hier schon häufiger erwähnten, Psychoanalytiker. DJ Morgenroethe arbeitet jetzt für »Die Welt« – und gibt ihr hoffentlich etwas von seiner aufklärerischen Morgenröte ab. Damit da drüben bei Springer auch mal die Sonne aufgeht.
Zum Abschied lud er mich in die Redaktion des »nd« – und dann zum klassischen Mittagsmenü beim Italiener nebenan – ein. Ich hatte das Gebäude mehrere Male umkreist, bis ich den, durch eine Baustelle verdeckten, Eingang gefunden habe: Den ikonischen Schriftzug, nach dem ich vom Fahrrad aus gesucht hatte, sah man nur von Weitem. Besonders gefiel mir der Paternoster und die Aufschrift an der Wand, sobald man zu weit, also in den Keller oder auf den Dachboden, fuhr: »Bitte aussteigen – Weiterfahrt ungefährlich«. Vielleicht ist das schon der Aufhänger für meine nächste Kolumne.
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