- Politik
- Politisch motivierte Straftaten
Statistisch schlecht erfasst
Zahl politischer Straftaten erreichte 2021 einen neuen Höchststand
Es war sein schlichter Hinweis auf den fehlenden Mund-Nasen-Schutz, der einem Zugbegleiter am Bahnhof im sächsischen Kamenz am Samstag gefährlich wurde. Der 58-Jährige wies einen Passagier auf die im Zug geltende Maskenpflicht hin, der Fahrgast rastete daraufhin komplett aus, prügelte und trat auf sein Opfer ein. Als der Täter auf dem Bahnsteig mit einem Stein auf den Schaffner einschlagen wollte, konnte der herbeigeeilte Lokführer noch Schlimmeres verhindern.
Die Tat vom Wochenende ist logischerweise kein Bestandteil der Statistik zur politischen Kriminalität des Jahres 2021, die am Dienstag von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und dem Präsidenten des Bundeskriminalamtes (BKA), Holger Münch, in Berlin vorgestellt wurde. Doch der brutale Übergriff passt zu dem, was aus den neuen Zahlen hervorgeht.
Faesers und Münchs beunruhigende Botschaft: Die Anzahl politisch motivierter Straftaten erreichte vergangenes Jahr mit 55 048 erfassten Delikten einen Höchststand seit Einführung der Statistik 2001. Im Vergleich zum Vorjahr entspricht dies einem Anstieg um 23,2 Prozent. Ebenfalls um 16 Prozent höher fällt die Zahl politisch motivierter Gewalttaten aus. Hier zählten die Polizeibehörden 3889 Delikte. Verantwortlich für die stark gewachsene Anzahl an Fällen sind laut BKA-Chef Münch Straftaten mit Bezug zu den im letzten Jahren stattgefundenen Wahlen in Bund und Ländern, aber vor allem die Proteste gegen die staatliche Corona-Politik.
In diesem Zusammenhang zeigt sich eine erhebliche Schwäche des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes für politisch motivierte Kriminalität. Ingesamt 21 339 Fälle und damit fast 40 Prozent aller erfassten Straftaten wurden von den Behörden in die Kategorie »nicht zuordenbar« eingeordnet. Sprich: Der Polizei sei es nicht möglich gewesen einzuschätzen, wie die Täter*innen konkret politisch motiviert handelten. »Unbefriedigend« nennt diese Situation auch BKA-Präsident Münch und erklärte, eine gemeinsame Arbeitsgruppe mit den Landeskriminalämtern werte derzeit die Entwicklung der Fallzahlen in Kooperation mit Wissenschaftler*innen aus, damit die Statistik in Zukunft genauer werde.
Das Problem aus Sicht des BKA-Präsidenten: Besonders bei Straftaten mit Bezug zu den Corona-Protesten handele es sich um eine »heterogene Mischszene«, der eine »staatskritische bis staatsfeindliche Haltung« gemeinsam sei. Erkennbar seien jedoch »starke Schnittmengen« mit dem Bereich Rechtsextremismus. Dass dieser weiterhin die größte Gefahr für die Demokratie darstellt, betonte die Bundesinnenministerin. 41 Prozent aller erfassten Gewalttaten gehen von Rechtsextremist*innen aus.
Faeser sagte, im Kampf gegen rechts habe sich zuletzt einiges getan. Dabei verwies die SPD-Politikerin auf den Mitte März von ihr vorgestellten Maßnahmenkatalog der Bundesregierung, der eine Mischung aus Prävention, Opferschutz und aktiveren Vorgehens der Behörden gegen rechtsextreme Strukturen beinhaltet.
Neu ist laut BKA-Präsident Münch, dass seit Dienstag rechte Gefährder*innen bundesweit mit einem einheitlich standardisierten Verfahren bewertet werden. Beim sogenannten Radar-rechts handelt es sich um ein Risikobewertungsinstrument. Mit Hilfe eines Fragebogens soll künftig die Gefahr besser eingeschätzt werden können, die von polizeilich bekannten Personen ausgehen könnte. Zur Bewertung werden Informationen über das private und berufliche Umfeld herangezogen, aber auch, ob jemand in gewaltbereiten Strukturen eingebunden ist. Radar kommt seit 2015 bisher nur für im Bereich gewatbereiter Islamismus zum Einsatz.
Kritik an den vorgelegten Zahlen gab es aus der Linkspartei und von Opferverbänden rechter Gewalt. Der massive Anstieg an politisch motivierten Straftaten sei »nicht überraschend, sondern ist Ausdruck des Vormarsches rechter, menschen- und demokratiefeindlicher Einstellungen«, so Martina Renner, innenpolitischer Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag. Sie hält es für einen »politischen Fehler«, dass in der Statistik viele Taten dem Bereich »nicht zuzuordnen« zuschlagen werden. Dies führe zu einer »einer eindeutigen Unterschätzung der Gefahr von rechts«.
Zwar sei die Querdenken-Szene, die für einen Großteil des Anstiegs an Taten verantwortlich ist, laut Renner nicht Eins-zu-eins mit der Naziszene gleichzusetzen, doch »verbindende Ideologiemomente entstammen eindeutig der extremen Rechten«.
Unzufrieden nicht nur mit der Statistik zeigte sich auch der Verband der Beratungstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG). Dieser präsentierte am Dienstag in Berlin seine Jahresbilanz. »Wir sehen mit Besorgnis, dass die Untererfassung rechter Gewalt zunimmt«, warnte VBRG-Vorstandsmitglied Robert Kusche. Genau wie Innenpolitikerin Renner kritisiert der Verband, dass zu viele Gewalttaten durch Anhänger*innen von Verschwörungsideologien und der Coronaleugner-Bewegung als »nicht zuzuordnen« eingestuft würden.
Pusche nannte ein Beispiel, das die Willkür der politischen Kriminalitätsstatistik zeige. Demnach wurde das Tötungsdelikt von Idar-Oberstein, bei dem der Täter vergangenen September im Streit um die damals geltende Maskenpflicht den Mitarbeiter einer Tankstelle erschoss, nicht als politisch rechts motiviert eingestuft, obwohl der Täter Verschwörungsideologien anhing. Als rechte Gewalttat erfasst wurden hingegen die Morde eines Familenvaters an seiner Frau und den drei Kindern in Königs Wusterhausen. Der Mann, der im Anschluss an die Tat Suizid beging, war Anhänger der Coronaleugner-Bewegung.
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