Kritik an realitätsfremder Vorstellung von Gemeinwohl

Klimagerechtigkeit und der Kampf dafür sind im neuen Grundrechtereport wichtige Themen

2021 war auch ein Jahr, in dem die Grundrechte von Klimaschützern bei Aktionen und Protesten häufig verletzt wurden. Der am Mittwoch veröffentlichte Grundrechtereport widmet sich dem Themenfeld Klimagerechtigkeit in mehreren Beiträgen. Dabei geht es sowohl um die großen Linien als auch um konkrete Aktionen und deren Folgen.

Natürlich ist auch die erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen das Klimasschutzgesetz der alten Bundesregierung Thema im Bericht. Die Berliner Rechtswissenschaftlerin Autorin Rosemarie Will zeichnet nach, warum der Klimaschutz als individuell einklagbares Grundrecht etwas Neues ist. Die Begründung des Bundesverfassungsgerichts nennt Will »ungewöhnlich«, es sei ein Grundrecht mit »völlig neuer Struktur« entstanden. Die Entscheidung, Freiheit »gerecht zwischen Generationen« zu verteilen, sei ein Novum. Will leitet daraus ab, dass Gerichte politische Entscheidungen nicht mehr nur auf ihre Zielgerichtetheit, sondern auch »in Bezug auf die
Generationengerechtigkeit für alle betroffenen Grundrechte« bewerten können. Mit anderen Worten: Klimaschutz muss wirksam sein und darf nicht zeitlich nach hinten verschoben werden. Sonst greift er in Grundrechte zukünftiger Generationen ein.

Nicht weniger spannend als die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist die Frage nach dem Verbandsklagerecht für Umweltgruppen. Dieses wurde eingeführt, weil die Natur sich nicht selbst vor Gericht vertreten kann. Aber es ist in Deutschland auch stark unter Beschuss. So sind etwa die Klagen der Deutschen Umwelthilfe gegen Schadstoffbelastungen in Innenstädten insbesondere konservativen Akteuren ein Dorn im Auge. Am liebsten würden sie das Verbandsklagerecht schleifen.

Eine andere Kritik lautet, Klagen von Umweltgruppen verzögerten Neubauprojekte und schadeten, etwa wenn es um Stromtrassen geht, dem Klimasschutz. Die Ampel-Regierung hat diese Kritik aufgenommen, will wichtige Neubauprojekte in Zukunft per Gesetz beschließen. Kathleen Pauleweit und Louisa Hantsche erklären im Grundrechtereport, warum dieses Vorhaben noch verbesserungswürdig ist und warum es erstrebenswert wäre, wenn gut ausgestattete Planungsbehörden Hand in Hand mit Umweltgruppen arbeiten würden.

In den Beiträgen zum Klimasschutz geht es, wie könnte es auch anders sein, auch um das Rheinische Braunkohlerevier. Die politische Entscheidung, die zur Räumung des Hambacher Forstes führte, wird nachgezeichnet und erklärt, warum das Kölner Verwaltungsgericht diese im September 2021 für rechtswidrig erklärte. Ein anderer Beitrag beschäftigt sich mit dem Dorf Lützerath, das mittlerweile vom Oberverwaltungsgericht Münster für die Abbaggerung freigegeben wurde. Hier werden die Tücken des Bergrechts erklärt. Tina Keller bezeichnet die darin festgeschriebene Definition von Gemeinwohl, das demnach auch die Sicherstellung der Stromversorgung mit Braunkohle und den Erhalt von Jobs beinhaltet, als »schlicht realitätsfremd«.

Nah an der bitteren Realität sind die Beiträge im Report, die sich mit Repressalien gegen Klimagerechtigkeitsaktivisten beschäftigen. Die Anwältin Antonella Giamattei geht auf die Proteste gegen die Internationale Automobilausstellung in München im vergangenen Jahr ein. Sie beschreibt, welchen Restriktionen das Camp gegen die Automesse unterlag und wie »nichtige Anlässe« zu stundenlangen Gewahrsamnahmen führten. Die Autorin weist zudem auf den unterschiedlichen Umgang zweier Gerichte mit Brückenblockierern hin. In einem Fall wurde Unterbindungsgewahrsam verhängt, im anderen nicht.

-Unterdessen sehen sich Klimaaktivisten, die mit Aktionen zivilen Ungehorsams auf Probleme aufmerksam machen, immer häufiger mit Klagen von Unternehmen konfrontiert. Unterlassungserklärungen und das Geltendmachen von Schadenersatzansprüchen sind nicht selten. Die Polizei agiert dabei oft als Gehilfe der Firmen. Im Report wird als Beispiel eine Flughafenblockade in Leipzig genannt, nach der der DHL-Konzern Schadenersatz in Höhe von 1,5 Millionen Euro verlangte.

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