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Von der Vereinsamung
Wer kein Heroin nimmt, wird irgendwann unwichtig: Christiane Felscherinow zum 60. Geburtstag
Als er noch Kandidat war, behauptete Donald J. Trump 2015 im Wahlkampf, dass Mexikaner »Drogen bringen«, wenn sie in die USA kommen. Im Februar dieses Jahres begründete Wladimir Putin den russischen Überfall auf die Ukraine unter anderem damit, »drogensüchtige Nazis« aus der Regierung und aus dem Land vertreiben zu wollen. Offenbar gehen angehende oder amtierende Staatsführer davon aus, dass ein Schreckgespenst den Leuten noch mehr Angst einjagt, wenn es zum Spuken Drogen braucht oder auch nur welche dabei hat.
Hierzulande ist, abgesehen von ein paar wenigen, zaghaften Vorstößen, Cannabis zu legalisieren. kein Politiker je darauf gekommen, Drogen zum großen Thema zu machen. Das liegt an zwei kulturellen Phänomenen, die praktisch bis heute festlegen, was und wie in Deutschland über Rauschgift gedacht, geredet und geschrieben wird. Das eine war 1972 der Hit »Am Tag, als Conny Kramer starb«, gesungen von Juliane Werding. Der Text handelt von einem jungen Mann mit einem Kopf »voll verrückter Ideen«. Um sie umzusetzen, bringt er sich erst mit Bier in Laune und steigt dann auf Haschisch um. Was nun passiert, beschreibt Werding so: »Doch aus den Joints da wurden Trips / Es gab keinen Halt auf der schiefen Bahn.«
Werding befand demnach, dass sich an das Rauchen von »Joints«, also weicher Drogen, der Konsum von härteren Drogen anschließe. Und dann gute Nacht: Conny Kramer musste sterben. Seitdem gehören im bundesdeutschen Diskurs Jugend, Drogen, Gesetzesverstöße und ein viel zu frühes Ende zwangsläufig zusammen. Diese Ansicht machte Juliane Werdings millionenfach verkaufter Hit zur öffentlichen Meinung. Um sie für alle Zeiten zu zementieren, veröffentlichte der »Stern« 1978 die Serie »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«. Darin erzählte die in der Westberliner Gropiusstadt aufgewachsene, heroinabhängige jugendliche Prostituierte Christiane F. den »Stern« Reportern Kai Hermann und Horst Rieck ihr bisheriges Leben. Doch anders als Conny Kramer lebt sie noch heute. Und wussten Sie eigentlich, dass Juliane Werding mittlerweile als Heilpraktikerin arbeitet?
Die Buchfassung von »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« avancierte zum größten Sachbuchbestseller der frühen 80er Jahre. Christiane F. erschien darin fast wie eine Wiedergängerin der jungen Frauen in den Dramen, Romanen und Opern des 19. Jahrhunderts – wie Gretchen, Woyzecks Marie und die Kameliendame, wie Anna Karenina, Effi Briest und Hedda Gabler, wie Puccinis Mimi und Bizets Carmen – die alle ohne Drogen, aber dramaturgisch wirkungsvoll starben, während Christiane F. am Ende des Buches gerade noch ein lebensrettender Entzug gelingt.
Wie es mit ihr weiterging, erzählte sie unter ihrem vollständigen Namen Christiane Felscherinow 2013 der Journalistin Sonja Vucovic in dem Buch »Christiane F. – Mein zweites Leben« (ihr abgekürzter Name blieb ihr Markenzeichen). Die Erzählung setzt direkt nach dem ersten Buch ein, mit dem Felscherinow berühmt und finanziell unabhängig geworden ist. Von den Tantiemen, die sie für »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« als auch durch die gleichnamige Verfilmung erhält, kann sie sämtliche Lebenshaltungskosten bestreiten, ohne jemals dafür einen Job annehmen zu müssen. Sie wohnt in Hamburg in einer WG mit Musikern und probiert sich in unterschiedlichste Richtungen aus. Sie arbeitet in dem frühen Indie-Plattenladen »Rip off«, betreut Künstler und macht auch selbst Musik: unter anderem nimmt sie die Single »Ich bin so süchtig« auf.
Auch als Schauspielerin unternimmt sie Gehversuche und spielt unter anderem in dem Untergrund-Science-Fiction-Thriller »Decoder« mit. Der Film dreht sich um die Möglichkeit, den Widerstandsgeist von Menschen zu wecken, indem sie nicht länger mit Kaufhaus- oder Fahrstuhlmusik berieselt werden, sondern interessante Musik zu hören bekommen. Nicht zuletzt gibt Felscherinow viele Interviews im Fernsehen und lässt die Moderatoren und das Studiopublikum über ihre Leichtigkeit staunen, sich sofort in »druckreifen Bildern« auszudrücken. So hatten schon die »Stern«-Journalisten Hermann und Rieck ihren Eindruck beschrieben, als sie nur wenige Jahre zuvor auf den Fluren des Kriminalgerichts Berlin-Moabit zum ersten Mal mit der damals 15-jährigen Felscherinow ins Gespräch gekommen waren.
Noch heute kann man in historischen Aufnahmen auf Youtube sehen, wie amüsiert Felscherinow lächelt, wenn ihr in verschiedenen Sendungen davon berichtet wird, dass manche Menschen sie als »Heldin« oder, noch bizarrer, sogar als »Vorbild« betrachten. Tatsächlich ist sie, das lässt sich schnell erkennen, eine Persönlichkeit. Rhetorisch und argumentativ kann sie es mit jedem Gegenüber aufnehmen. Der Zuschauer bekommt den Eindruck, dass sie etwas zu sagen hat und, ganz ohne pädagogisierende Haltung und ohne Alarmismus, zur Aufklärung über Drogen beitragen will.
In ihrem zweiten Buch lässt sich aber auch ein bedeutender Unterschied zu anderen Autoren erkennen, die sich mit dem Konsum harter Drogen beschäftigen. Berühmte Schriftsteller wie Thomas de Quincey und William Burroughs werden bis heute für ihre opiatgestütze literarische Erfindungsgabe bewundert. Felscherinow hat hingegen etwas beschrieben, was diese Autoren entweder weniger erlebt, aber vielleicht auch nur ungern zugegeben haben. Sie schildert nicht nur, wie die Droge ihrem Körper und wohl auch ihrer Psyche Schaden zufügt; es gelingt ihr außerdem zu beschreiben, in was für eine existenzielle Vereinsamung das Heroin den Süchtigen stößt. Sämtliche drogenfrei lebenden Freundinnen und Freunde ziehen sich irgendwann von ihr zurück. Tun sie es nicht, werden sie von Felscherinow vertrieben oder sie stellt den Kontakt allmählich ein. Denn das Heroin, welches ihr Leben immer wieder bestimmt, trifft eine rigorose Auswahl. Es erlaubt nur Kontakt zu Leuten, die den Stoff selbst nehmen oder verkaufen. Diese Abhängigkeit, das zeigt Felscherinow, bedeutet, sozialen Selbstmord zu begehen.
Das Heroin funktioniert wie ein Fallbeil, das zwischen den Süchtigen und allen, für die der Stoff keine Rolle spielt, heruntergeht. Wer kein Heroin nimmt, ist unwichtig. Niemand, egal, ob es sich dabei um alte Bekannte, Freunde, Familienmitglieder oder selbst das eigene Kind handelt, ist von dieser Regel ausgenommen. Am Freitag wird Christiane Felscherinow 60 Jahre alt. Ein drittes Buch ist ihr allemal zu wünschen.
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