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- Berliner Theatertreffen
Wen interessiert’s?
Stell dir vor, das Berliner Theatertreffen findet statt – und keiner geht hin
Am letzten Wochenende ging die jüngste Ausgabe des Berliner Theatertreffens zu Ende, jenes Kunstereignisses also, auf das sich alljährlich im Mai die Blicke von Fachwelt und begeisterungsfähigem Publikum richten. Eigentlich. Nach zwei pandemisch getrübten Jahren, in denen das Theatertreffen sein Dasein im Internet fristen musste, wollte auch 2022 keine rechte Festspielstimmung aufkommen. Gespielt wurde vor nicht ausverkauftem Haus.
Wir erinnern uns: Das Theatertreffen war einmal Gesprächsthema in der Hauptstadt – und auch darüber hinaus. Nicht nur in den Kreisen der Kulturschickeria, sondern unter ganz gewöhnlichen Menschen, die sich interessierten für die Gesellschaft, in der sie leben, für die Kunst, zu der das Theater zählt, und die irgendwie noch nicht der Glaube verlassen hatte, das eine könne im anderen gespiegelt und verstanden werden. Die Rede ist nicht von einer dunklen, schrecklich lang vergangenen Vorzeit.
Es war erst 2013, als Dimiter Gotscheff mit einer Münchener Regiearbeit – es handelte sich um Heiner Müllers Postrevolutionsstück »Zement« – beim Theatertreffen gastierte. Die Inszenierung sorgte für Furore und wischte alle gefälligen postdramatischen Bühnenspielereien einfach beiseite. Dieses Meisterwerk musste man gesehen haben; wer es nicht schaffte, pilgerte später ans Residenztheater München oder nahm mit der DVD vorlieb. 2015 wurde dann Frank Castorfs »Baal«-Adaption, deren Aufführung durch die Brecht-Erben untersagt wurde, nach der Premiere noch ein einziges Mal im Rahmen des Theatertreffens gezeigt. Nach sieben Minuten war die Vorstellung ausverkauft – aber bis heute ist sie der Grund, von dem ein fast unerschöpflicher Anekdotenschatz geborgen werden kann. Man sprach über das Theatertreffen, auf dem Weg vom U-Bahnhof Spichernstraße zum Haus der Berliner Festspiele, im Foyer, in der Kneipe gegenüber, die den charmanten Namen »Die kleine Philharmonie« trägt.
Heute ist die Rede von »Publikumsschwund«. Die Theaterkritikerin Christine Dössel hat in der »Süddeutschen Zeitung« mit einem Artikel unter dem Titel »Schwundstufen in der Bubble« für Aufsehen gesorgt. Klarsichtig attackiert sie das Insiderhafte am zeitgenössischen Theater. Das allerdings kann der Grund allein nicht sein für ausbleibende Zuschauer, ist das Phänomen schließlich nicht so neu. Richtigerweise stellt sie aber fest, dass eine starke Konkurrentin namens Netflix vom Theater überflügelt werden will. Die Bühnenkunst hat offenkundig schlechte Karten in diesem Kampf, auch wenn sie sich bemüht.
Dössel erkennt durchaus die ambitionierte Agenda der Theater: »Dranbleiben, internationale Vernetzung, Mentoring, Sitzungsstrukturen ändern, Chefs einbinden (‚talk to your peers›), Druck ausüben, Maßnahmenkataloge erstellen, und bitte die Achtsamkeit nicht vergessen! Die To-do-Liste ist inzwischen immens.« Sie endet indes mit der Frage, die sich Dramaturgen und Regisseure, Intendanten und Kulturpolitiker viel zu selten stellen: »Aber wo bleibt die Kunst?«
Der Kulturjournalist Tobi Müller macht in dem Schweizer Online-Magazin »Republik« einen anderen Grund für das abflauende Interesse aus. Angesichts des Krieges in der Ukraine wird das Mängelwesen Theater offenbar. Hat man früher noch Politik in den Klassikerinszenierungen verhandelt, durch große Literatur also die großen Menschheitsprobleme zum Thema gemacht, so ist man in den letzten Jahren dazu übergegangen, eins zu eins über die politischen Sorgen der Gegenwart zu sprechen. Diese ohnehin fragwürdige Strategie führt nach Müller in ein Dilemma, wenn der Weltenbrand den öffentlichen Diskurs bestimmt: »In der Aufmerksamkeitsökonomie gewinnt der Krieg immer. Wenn der Wert des Theaters allein im messbaren öffentlichen Impact seinen Ausdruck findet, hat es verloren. Vielleicht sind wir bald wieder an einem Punkt, an dem das Theater seine Stärke findet, wenn es das Primat des Politischen auch einmal missachtet.« Der Autor stellt damit allerdings einen recht engen Begriff von Politik zur Schau, war das Theater früher schließlich nicht weniger politisch, sondern nur weniger plakativ.
Mit etwas mehr Scharfsinn widmet sich der Kulturkritiker Georg Seeßlen der Schwesternkunst Film und verbleibt nicht bei der Analyse, sondern wagt die Formulierung eines Manifestes, schlicht »Für ein Kino nach Corona« überschrieben. In nicht unwesentlichen Teilen ist seine Streitschrift auch auf das Theater übertragbar: »Es gibt zwei Möglichkeiten eines radikalen Kinos: Einerseits eine totale Autonomie des Produzenten als Autor – er oder sie macht alles allein, er oder sie nutzt alle anderen Mitarbeiter ausschließlich für das eigene Projekt. Oder aber, im Gegenteil, eine neue demokratische Form des Kollektivs als Gegenmodell zur mittlerweile turbokapitalistischen Produktion.« Dass beim Nachdenken über die Krise der Künste der Begriff Produktionsmittel, wie im Text von Seeßlen, fallen darf, macht zumindest etwas Hoffnung für die Zukunft.
Das Manifest endet mit dem notwendigen optimistischen Realismus: »Das Mainstreamkino ist tot. Wir glauben an ein anderes.« Darf man sich derzeit im Theater solchen Optimismus noch erlauben, will man sich nicht der Verblendung beschuldigen lassen? Die darstellenden Künste sind in verschiedener Hinsicht in die Krise geraten. Ein rein ästhetisches Dilemma setzt sich seit Jahren fort, man hat schlicht keinen Begriff mehr davon, was eine Form ist.
Verstärkt, statt eingedämmt, wird dieses Phänomen durch den Novitätenwahnsinn. Alles Neue wird erstmal goutiert, nur weil es nicht alt ist. Als wäre es nicht eine leicht zu verstehende Einsicht, dass die sich immer nur im Moment der Darstellung, also in der Gegenwart, konstituierende Kunstform Theater durch ihre Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ergibt. Gegenwärtigkeit versucht man stattdessen durch Inhalte herzustellen, denen der künstlerische Charakter abgeht.
Zu diesen über Jahre gereiften Symptomen kommt nun eine coronabedingte Entwöhnung hinzu, nach der so einige feststellen müssen, dass ihnen vieles gefehlt hat, aber nicht der Besuch in einem beliebigen Schauspielhaus. In Zeiten des Krieges bemerkt man nun, dass das Theater denkbar wenig beizutragen hat. Das könnte anders sein, begriffe man die Bühnen noch als öffentliche Orte, würde man von der Rampe nicht eitel Positionen verkünden, sondern Fragen mit auf den Weg geben, über die zu sprechen, lohnend wäre. Hierin besteht vielleicht eine der größten Herausforderungen für das Theater, die es mit dem Kino teilt: Wie kann sich ein Ort als öffentlicher Raum behaupten in Zeiten, in denen die Öffentlichkeit ohnehin zu verschwinden droht?
Das Berliner Theatertreffen, das bei Weitem nicht allein mit dem verschwundenen Publikum zu kämpfen hat, diente in diesem Jahr vor allem dazu, die Krise der darstellenden Kunst vor Augen zu führen.
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