Endlich mal Wahlkampf in Otterwisch

Wie zwei Kandidaten bei der Kommunalwahl in Sachsen zementierte politische Verhältnisse aufbrechen wollen

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 9 Min.
3000 Plakate werben für Alex Theile im Landrats-Wahlkampf im riesigen Landkreis Bautzen. Etliche bringt der Kandidat (links) selbst mit an.
3000 Plakate werben für Alex Theile im Landrats-Wahlkampf im riesigen Landkreis Bautzen. Etliche bringt der Kandidat (links) selbst mit an.

Als Sarah Schröder vor 22 Jahren geboren wurde, war Matthias Kauerauf schon elf Jahre lang Bürgermeister ihres Heimatdorfes Otterwisch. Im Jahr 1989 übernahm er die Amtsgeschäfte in dem Ort zwischen Leipzig und Grimma. 1994 bekam es der damals noch frische Verwaltungschef mit einem Gegenkandidaten von der CDU zu tun, der jedoch mit 31 Stimmen ein demütigendes Ergebnis in dem rund 1500 Einwohner zählenden Ort einfuhr. Als Sarah Schröder im Jahr 2001 ein Säugling war, trat Kauerauf seine dritte Amtszeit an; als sie 2008 in die Grundschule ging, seine vierte. Als sie 2015 das Gymnasium besuchte, wurde er zum fünften Mal gewählt, mit 94 Prozent. Andere Bewerber gab es nicht mehr. »Mit einer lebendigen Demokratie«, sagt Schröder, »hatte das nicht mehr viel zu tun.«

In gut einer Woche steht in Otterwisch wieder eine Bürgermeisterwahl an. Beinahe hätte erneut nur ein Name auf dem Wahlschein gestanden: der von Kauerauf, mittlerweile 61 und dienstältester Bürgermeister im Landkreis Leipzig. Die Familie habe abgeraten, aber er sehe leider »keinen Nachfolger, der die Arbeit so positiv fortsetzen könnte«, zitiert ihn die Lokalzeitung. Allerdings bekommt er es diesmal mit einer Konkurrentin zu tun. Sarah Schröder, die mittlerweile in Leipzig Lehramt studiert, bewirbt sich ebenfalls. Eine Handvoll Plakate mit ihrem Bild hängen vor den gepflegten Gehöften entlang der Hauptstraße von Otterwisch an Laternen. »Zum ersten Mal seit Jahren«, sagt sie, »gibt es jetzt hier einen richtigen Wahlkampf.«

Mit 22 schon einen Lebenslauf von drei Seiten

Wie groß die Chancen der jungen Bewerberin sind, ist offen. »Du bist 22, was weißt du schon vom Leben?!«, werde sie am Wahlkampfstand gefragt, erzählt sie. Die Antwort fiele umfangreicher aus, als mancher Passant erwarten würde. Ihr Lebenslauf ist drei eng beschriebene Seiten lang. Schröder hat sich in Schülerräten engagiert: in ihrer Schule, im Landkreis, im Freistaat. Sie hat in Grimma gemeinsam mit dem Sozialarbeiter Tobias »Pudding« Burdukat, der sich gerade ebenfalls um den Chefposten im dortigen Rathaus bewirbt, das »Dorf der Jugend« aufgebaut, eines der sehr seltenen alternativen Jugendzentren im ländlichen Raum Sachsens. Sie hat dafür um Fördermittel geworben, Skepsis in der Bürgerschaft ausgeräumt und mit bürokratischen Hindernissen gerungen – Fähigkeiten, die in einer Gemeindeverwaltung gefragt wären. Sie hat das Jugendforum im Leipziger Land mitbegründet, ein Gremium, in dem Jugendliche Ideen für ihre Region entwickeln. »Es geht dort nicht nur um die Frage: Was will ich und warum gibt es das nicht?«, sagt Schröder, »sondern um den Mut, selbst aktiv zu werden, sich einzumischen und um Mehrheiten zu werben.«

Derlei frischen Wind für die Demokratie wünscht sie sich auch für ihr Heimatdorf. Otterwisch sei ein durchaus lebendiges Dorf, sagt Schröder. Es gibt eine Schule, Bäcker und Fleischer, eine Kita und etliche Vereine. Am Tag vor der Wahl findet im Ortsteil Großbuch ein großes Dorffest statt. An der Hauptstraße laden Plakate die Dorfjugend zur Party ein. »Ehrenamtlich wird viel auf die Beine gestellt«, sagt Schröder. Entscheidungen aber fielen zu oft am Stammtisch. »Es gibt keinen öffentlichen Diskurs«, sagt sie: »Man hat verlernt, über wichtige Fragen in demokratischen Gremien zu streiten.« 2021 sorgte Otterwisch für Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass der Gemeinderat – zwölf Männer – vom Bürgermeister ein Jahr lang nicht einberufen worden war, angeblich, weil es keinen Raum gab, der den Pandemie-Vorgaben entsprochen hätte. Es ist nur ein Indiz dafür, dass auch dem Rathauschef ein lebendiges politisches Leben in der Gemeinde wohl nicht mehr wichtig ist. »Er hat viel erreicht für Otterwisch«, sagt seine Herausforderin, »aber er hat den Punkt verpasst, an dem es genug gewesen wäre.«

Politischen Wechsel gab es in Sachsen vielerorts nicht

Vielleicht ist das der Kern von Sarah Schröders Bewerbung: zu zeigen, dass Verhältnisse nicht auf ewig zementiert sein müssen, dass es Alternativen gibt, ein Wechsel möglich ist. Den hat es nicht nur in Otterwisch, sondern überhaupt in Sachsen lange nicht gegeben: im Freistaat, in dem die CDU seit 1990 ununterbrochen die Regierung führt; in den Landkreisen, in vielen Gemeinden. Statt lebendiger Debatten um die besseren Argumente und Ideen regiert vielerorts ein paternalistisches, bevormundendes Verständnis von Politik. Die Folgen sind verbreitete Passivität, Frust und Distanz zur Demokratie. Als Schröder, die sich als Parteilose von der Linken hat aufstellen lassen, an einem Wahlstand für sich und ihre Ideen, darunter ein Bürgerbudget, warb, wurde sie gefragt, wozu es denn überhaupt Politiker brauche.

Die junge Studentin in Otterwisch ist nur eine derjenigen, die die verkrusteten Verhältnisse nicht mehr hinnehmen wollen. Ein anderer ist Alex Theile, der im Wahlkampf jeden Morgen im »Büdchen« im Kamenzer Bahnhof vor einem Kaffee sitzt und Wählerkontakt sucht. Ein Mann am Nebentisch spricht ihn an: Ob er etwa der Mann von den Plakaten sei? Theile nickt. Auch er betreibt, wie Sarah Schröder, derzeit Wahlkampf. Seine Plakate hängen indes nicht nur entlang von 14 Kilometer Otterwischer Dorfstraßen, sondern im gesamten Landkreis Bautzen, der mit 2400 Quadratkilometern fast so groß ist wie das Saarland. 3000 Stück hat er zwischen Hoyerwerda, dem Dresdner Stadtrand und der Grenze zu Tschechien verteilt. Theile will Landrat werden und damit eine Verwaltung führen, die für 300 000 Menschen tätig und von Abfall über Nahverkehr bis Kfz-Zulassung für sehr viele Lebensbereiche zuständig ist.

Landratsposten als vermeintlicher Erbhof

Auch in den Kreisverwaltungen herrscht in Sachsen eine politische Monokultur. Landräte kamen in Sachsen bisher fast immer von der CDU, von seltenen Ausnahmen wie der SPD-Politikerin Petra Köpping abgesehen, die 2001 bis 2008 Landrätin im Leipziger Land war. Derzeit gibt es zehn Landkreise in Sachsen; die Chefs aller ihrer Verwaltungen haben ein CDU-Parteibuch. Vielen gilt der Posten als eine Art Erbhof. In Bautzen dankt CDU-Mann Michael Harig nach 21 Jahren ab und nimmt für sich in Anspruch, seinen Nachfolger selbst zu inthronisieren. Auf großen Plakaten ist er zusammen mit seinem bisherigen Stellvertreter und Parteifreund Udo Witschas zu sehen, den er zum Erben auserkoren hat. Der Slogan: »Meine Stimme hat er.«

Die Dominanz der CDU wankt freilich. Als ernsthafte Konkurrenz gilt vor allem die AfD. Sie hatte zuletzt bei der Bundestagswahl 2021 zehn der 16 sächsischen Wahlkreise gewonnen, und es gilt als nicht unwahrscheinlich, dass sie am 12. Juni einen erneuten Coup landet und erstmals einen Landrat stellt. In acht der neun Landkreise, die jetzt wählen, bietet sie Kandidaten auf. Im Kreis Görlitz, wo das Rennen als besonders eng gilt, gibt es faktisch nur ein Duell zwischen CDU und AfD; außer der FDP halten sich die anderen Parteien zurück, was als stillschweigende Unterstützung des CDU-Mannes gelten kann.

In Bautzen dagegen rechnet sich Theile ernsthafte Chancen aus, der lachende Dritte zu sein. Er wird von SPD, Grünen und der Linken unterstützt; für letztere sitzt er als Parteiloser schon einige Zeit im Stadtrat von Kamenz. Die drei Parteien pflegten in der Region einen engen Kontakt, sagt Silvio Lang, Kreischef der Linken. Bereits 2015 schickten sie einen gemeinsamen Kandidaten in die Wahl, »damit es eine Alternative zu Harig gibt«. Diesmal setzt das Bündnis auf Sieg – auch, weil Witschas vielen nicht als die bessere Wahl gegenüber der AfD gilt. 2017 sorgte er durch vertrauliche Chats mit dem Ex-Kreischef der NPD für Wirbel, in denen es um den Umgang mit Asylbewerbern ging. Im Januar diesen Jahres kündigte er auf einer Demonstration von Querdenkern an, die Impfpflicht im Gesundheitswesen nicht umsetzen und damit faktisch das Gesetz unterlaufen zu wollen. Lang warnt: »Wer glaubt, Witschas sei das kleinere Übel, bekommt einen CDU-Landrat mit AfD-Positionen.«

Kreistage sollen Selbstbewusstsein zurückerhalten

Theile würde als Landrat »mit Rechtspopulisten nicht zusammenarbeiten«, sagt er. Der 41-Jährige ist Soziologe und Jurist, hat als Unternehmensberater und Staatsanwalt gearbeitet und ist derzeit Amtsrichter in Weißwasser. Der Entschluss, sich als Landrat zu bewerben, sei in seiner Familie gefallen, nachdem der AfD-Mann Karsten Hilse in Bautzen das Direktmandat für den Bundestag gewann: »Das hat mich schockiert.« Allerdings geht es ihm nicht nur darum, einen Landrat von der Rechten zu verhindern, sondern auch um eine andere politische Kultur im Kreis. Die, sagt Theile, sei in 32 Jahren CDU-Herrschaft unter die Räder gekommen. Eigentlich seien der Landrat und die Verwaltung ausführendes Organ für die Vorgaben des Kreistags, sagt Theile. Das werde aber »nicht so gelebt«. Statt dessen gelten Landräte als Regionalfürsten und Regionalparlamente oft nur als schmückendes Beiwerk. Er dagegen, sagt Theile, würde dem Kreistag »mehr Selbstbewusstsein zurückgeben und Ideen der Kreisräte umsetzen«. Auch in der Verwaltung will er stärker darauf drängen, Ermessensspielräume zu nutzen. »Derzeit haben viele Bürger das Gefühl, als Bittsteller gesehen zu werden«, sagt er: »Dabei soll die Verwaltung Dienstleister sein.« Das wolle er ändern.

Zunächst einmal muss Theile für seine Kandidatur werben – und dabei oft auch erklären, worum es am kommenden Samstag überhaupt geht. Landräte, sagt er, seien einerseits »sehr präsente Figuren«. Sie bündeln nicht nur die Interessen einer Region, etwa in der für die Lausitz wichtigen Frage des Strukturwandels; sie verhandeln mit Bürgermeistern auf der einen und Dresdner Ministern auf der anderen Seite. Darüber hinaus aber gehören sie auch zu den wichtigsten Gesichtern der Politik; sie sind präsent bei fast jedem Dorffest und jeder Einweihung einer Schule oder eines Spritzenhauses. Viele Wähler wüssten dennoch nicht, was ein Landrat ist und was er zu tun hat, oder verwechselten ihn mit einem Landtagsabgeordneten: »Es fehlt in Sachsen an politischer Bildung.«

Also redet Theile mit Wählern und klärt auf: jeden Morgen im »Büdchen« am Bahnhof in Kamenz, danach an Ständen auf den Wochenmärkten der Region oder in Vereinshäusern. Der Wahlkampf dauert bis zum 12. Juni oder, wenn in Runde eins noch kein Sieger feststeht, noch drei Wochen länger. Auch Sarah Schröder betreibt in Otterwisch energisch Wahlkampf – und lässt sich nicht beirren vom Umstand, dass ihr Konkurrent die direkte Konfrontation scheut. Die Zeitung zitiert ihn mit der galligen Einschätzung, dass die Linke eine junge Studentin verbrenne: »Das finde ich vermessen.« Sarah Schröder findet ihre Kandidatur nicht vermessen, sondern Ausdruck einer lebendigen Demokratie.

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