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Ende der Kindheit
World Vision fordert Maßnahmen gegen Zwangsverheiratungen von Kindern
Vor dem Brandenburger Tor liegen Spielsachen in der Sonne, Teddybären, Bauklötze und Sandschippen – und dazwischen kleine Brautschleier- und Sträuße. Unter dem Motto »Hände weg von meiner Kindheit« will die evangelische Organisation World Vision damit darauf aufmerksam machen, dass weltweit laut Schätzungen von Unicef etwa 650 Millionen Mädchen und 115 Millionen Jungen vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet wurden. Tourist*innen bleiben immer wieder stehen und fotografieren die Installation, doch darauf angesprochen, wissen die wenigsten, worum es geht. Die Aktion am Donnerstag, einen Tag nach dem internationalen Kindertag, richtet sich vor allem an deutsche Politiker*innen, die während der Haushaltsdebatte im Bundestag kleckerweise vorbei kommen und symbolisch die Forderungen der Organisation unterschreiben.
Eine von ihnen ist Petra Pau, Vizepräsidentin des Bundestags und religionspolitische Sprecherin der Linken im Bundestag: »Ein selbstbestimmtes Aufwachsen erfordert Freiheit von Armut und natürlich, dass kein Kind zwangsverheiratet oder sexuell ausgebeutet werden darf«, sagt sie gegenüber »nd.DerTag«. Die Bundesregierung müsse alle diplomatischen Mittel einsetzen, damit sich internationale Standards wie die UN-Charta der Kinderrechte durchsetzen. Unterzeichnet haben 30 Bundestagsabgeordnete aller Bundestagsfraktionen außer der AfD – die rechtsextreme Partei wurde nicht eingeladen. Dass Zwangsverheiratungen und Gewalt gegen Kinder schlecht sind, darauf scheinen sich alle einigen zu können. Doch was kann die Bundesregierung konkret tun?
»Zwangsverheiratung ist ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Darum ist es eine globale Aufgabe, weltweit Lebensbedingungen zu schaffen, die ein Aufwachsen in Frieden und Freiheit ermöglichen«, so Gudrun Schattschneider, Politikchefin von World Vision Deutschland zu »nd.DerTag«. Sie plädiert insbesondere für eine Stärkung der Zivilgesellschaften vor Ort, etwa über Gesundheits- und Bildungsprojekte vor Ort. »Wir sind der Meinung, dass aus einer starken zivilgesellschaft weniger Zwangsverheiratung und weniger Gewalt an Kindern resultiert«, sagt sie. Außerdem solle die Bundesregierung ihren diplomatischen Einfluss nutzen, um ein Bewusstsein für das erhöhte Risiko von Zwangsverheiratung im Fluchtkontext und in der Covid 19-Pandemie zu schaffen und mehr Ressourcen in der humanitären Hilfe bereitstellen.
»Eine Zwangsverheiratung bedeutet das abrupte Ende der Kindheit und hat verheerende Auswirkungen auf die betroffenen Kinder«, sagt Schattschneider. Oft gehe damit ein Schulabbruch einher. Mädchen müssten sich um den Haushalt kümmern, Jungen einer Lohnarbeit nachgehen. Aber auch Gewalterfahrungen und eine frühe Schwangerschaft können eine Folge sein. Eine besondere Herausforderung sind aktuelle Krisen wie der Krieg in der Ukraine oder die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. Denn Armut, Flucht sowie Kriege und Konflikte sind die häufigsten Ursachen für die Zwangsverheiratung von Kindern. Laut Unicef führt die Hungersnot in Afghanistan bereits dazu, dass Familien ihre Kinder verkaufen. Auch Schattschneider zeigt sich entsetzt über die Haltung der Bundesregierung zu Afghanistan. Es sei ein Fehler gewesen, dort alle Organisationen abzuziehen. Auch hier müsse die Bundesregierung investieren: Politische Stiftungen wieder aufbauen, NGOs vor Ort unterstützen und die Zivilgesellschaft stärken.
Die Zahlen von Kinderehen in Deutschland sind seit dem gesetzlichen Verbot 2017 zurückgegangen. 2019 lebten 162 verheiratete Kinder und Jugendliche in Deutschland. Hier sei sexualisierte Gewalt gegen geflüchtete Kinder in Unterkünften ein Problem. World Vision fordert Grundstandards für Geflüchtenunterkünfte und eine Registrierung von Kindern, die etwa aus der Ukraine nach Deutschland flüchten. Viele ihrer Forderungen sind langfristig angelegt. Kristina Kreuzer, Referentin für Kinderrechte und Kinderschutz bei World Vision, sieht aber auch kurzfristige Möglichkeiten. So könne die Bundesregierung im Haushalt gezielt mehr Geld für Bildung bereitstellen. »Mit starken resilienten Bildungssystemen, gebildeten Kindern und gebildeten Familien, die über ihre Rechte Bescheid wissen und die Gefahren von Zwangsverheiratung kennen, kann auch das Phänomen reduziert werden«, sagt Kreuzer.
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