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Noli Me Tangere
Über ein Orchester an Geistern und einen Chor an auferstandenen, untoten Kaninchen, die ihr eigenes Requiem singen.
Pfingsten ist einer dieser Feiertage, die ich immer vergesse. Auch dieses Mal wieder – bis ich, eben gerade, mit zwei IKEA-Taschen voller Pfandflaschen vor dem geschlossenen Supermarkt stand: Dem ikonischen »Kaiser’s am Kotti«, der schon seit einigen Jahren ein REWE ist, von den Langzeit-Bewohner*innen der Nachbarschaft aber immer noch »Kaiser’s« genannt wird. Ich heulte kurz zwei Tränen der Enttäuschung (die eigentlich vor allem Erschöpfung war), dann schleppte ich meine zwei riesigen Pfandflaschentaschen wieder die fünf Etagen zu meiner Wohnung hoch, wo ich noch mal zwei Tränen weinte. Ich hatte mich schon vorher wie ein Loser gefühlt, durch meinen Pfandflaschen-Misserfolg hatte das Gefühl nun aber einen konkreten Anlass gefunden, sich, zumindest in zweimal zwei Tränen, zu entladen. Der Grund, warum ich so geknickt war, war mir nur allzu bekannt: Ich war mal wieder heartbroken.
Heartbreak ist einer dieser Zustände, an die ich mich nie gewöhne – so wie die vergessenen Feiertage mich auch wieder jedes Mal aufs Neue überraschen. Es wird irgendwie nicht besser, obwohl ich mittlerweile ganz gut in Übung bin. Denn man könnte es ja auch sportlich sehen – nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Aber irgendwie schaffe ich es nicht, mich zu gewöhnen, obwohl der Abstand zwischen den einzelnen Herzschmerz-Trainingseinheiten immer kürzer wird. Jedes Mal ist der Schlag in die Fresse wieder überraschend brutal, immer verletze ich mir dabei einen neuen Knochen, von dessen Existenz ich vorher noch gar nichts wusste.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Als Jesus am Ostersonntag, vor genau 50 Tagen, aufersteht, sagt er zu seiner Ex-Geliebten Maria Magdalena, die er auf dem Weg in den Himmel trifft: »Noli me Tangere«, was übersetzt heißt: »Fass mich nicht an.«
»Noli Me Tangere« war jahrelang mein Dauerzustand – und eine gut funktionierende Schutzfunktion. Nichts von niemandem zu wollen, ist die sicherste Position, in der man sich befinden kann – und die langweiligste. Trotzdem, an Tagen wie heute sehne ich mich zurück nach meiner einsamen Unberührbarkeit.
Es war wie eine Art Resistenz gegen eine Krankheit – ich war so verhärtet, dass ich gar nicht in der Lage war, jemandem die Offenheit und Zärtlichkeit entgegenzubringen, derer es bedarf, um verletzt zu werden.
Eigentlich ist es also ein gutes Zeichen, dass ich jetzt wieder regelmäßig auf die Fresse bekomme, denn es zeigt, dass ich überhaupt in der Lage bin, vom Heiligen Geist des Affektes für jemanden erfasst zu werden, manchmal regelrecht ergriffen.
Ikonographisch ist Pfingsten nämlich die Aussendung oder Ausgießung des Heiligen Geistes. Die Apostel und Jünger sitzen zusammen, »da kommt plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllt das ganze Haus, in dem sie sitzen. Und es erscheinen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilen, auf jeden von ihnen lässt sich eine nieder«.
Vielleicht kommt die Redensart, dass man für etwas oder jemanden »Feuer fängt« also aus der Pfingstgeschichte. Schon Ostern hatte für mich dieses Jahr mit einem, eher schaurigen, Feuer begonnen. Ich war auf dem Bauernhof gewesen, auf dem ein alter Freund von mir aufgewachsen war. Schon bei meiner Ankunft, zwei Tage vor Ostersonntag, war auf der Wiese ein gigantischer Holzhaufen aufgebaut gewesen – aus dem dann das traditionelle Osterfeuer werden sollte. Es gab allerdings Gerüchte, dass ein paar der wild lebenden weißen Kaninchen in der Zwischenzeit dort eingezogen waren – scheinbar hatten sie gerade Junge (Jünger) geworfen. Zwei Tage lang versuchten wir, den Vater meines Freundes davon zu überzeugen, das Feuer nicht anzuzünden, er speiste uns aber immer wieder mit einer »Habt euch nicht so«-Attitüde ab. Am späten Sonntagnachmittag brannte es dann plötzlich lichterloh – und wurde, statt »böse Geister zu vertreiben« zum Scheiterhaufen für die weißen Kaninchen.
Wir sahen nur noch ein paar von ihnen, angesengt und in größter Panik aus dem Feuer rennen, dann hörten wir das verzweifelte Fiepen der anderen aus dem Inneren des Haufens.
Wie in der Bibel hatte jemand, einfach so, ihr Haus angezündet. Und wie in der Bibel, hatten sich auf ihnen und ihren Jungen (Jüngern) die Zungen von Feuer niedergelassen – und der Heilige Geist hatte von ihnen Besitz ergriffen.
Schon an Ostern selbst war ich ziemlich verstört davon gewesen, dass ich mal wieder für jemanden »Feuer gefangen« hatte – ich ahnte schon die, 50 Tage später bevorstehende, Enttäuschung. Das vor Angst und Schmerz fiepende Osterfeuer war die dramatische Fleischwerdung meiner damals noch irrational scheinenden Panik gewesen.
Ostern ist also das Fest der Auferstehung – in diesem Fall der, hoffentlich, auferstandenen Kaninchen. Pfingsten dagegen ist die Manifestation des Heiligen Geistes, die Verewigung des Abwesenden – in den noch Anwesenden, auf der Erde. Ich trage alle meine (abwesenden) Heartbreaker irgendwo in mir herum – und befinde mich dabei in schmerzhafter ständiger Präsenz von ihnen: Ein ganzes Orchester an Geistern, die Herzschmerz-Oratorien in meine Richtung feuern, untermalt von einem Chor an auferstandenen, untoten Kaninchen, die ihr eigenes Requiem singen. Hallelujah!
Mein Herz ist langsam überfüllt, so wie die Regionalzüge seit Beginn der Gültigkeit des 9-Euro-Tickets. Und langsam habe ich das Gefühl, bald werde ich zu der Zugführerin, die droht, nicht weiterzufahren, wenn nicht bald einige von den Geistern aussteigen. Mal sehen, welche sich erbarmen, mich (endlich) zu verlassen.
Das einzige, was hilft, ist wahrscheinlich eine Geisteraustreibung – vielleicht versuche ich mal die klassische Strategie des Ghosting, so unchristlich sie sich auch anfühlen mag.
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