Dynamik durch Fläche

Dürer, Kirchner, Baselitz – das Berliner Kupferstichkabinett spürt der Entwicklung des Holzschnitts über mehr als sechs Jahrhunderte nach

  • Klaus Hammer
  • Lesedauer: 4 Min.
"Der Kuss IV" von Edvard Munch zeigt den Holzschnitt in roher abstrakter Form.
"Der Kuss IV" von Edvard Munch zeigt den Holzschnitt in roher abstrakter Form.

In seiner diesjährigen Sommerausstellung widmet sich das Berliner Kupferstichkabinett dem Holzschnitt. Es greift dabei auf seinen riesigen Fundus zurück und präsentiert die Holzschnittkunst, ihre Motive und Wandlungen anhand ausgewählter Werke aus mehr als sechs Jahrhunderten.

Das in Europa älteste grafische Verfahren zur Bildherstellung kam hauptsächlich im ausgehenden Mittelalter zum Einsatz. Holzschnitte wurden zunächst als Andachts- und Heiligenbilder geschaffen und für Spielkarten, Innenraumdekorationen sowie auch Flugblätter genutzt. Die lineare Fülle wurde zunächst durch Kolorierung ergänzt, dann kam Text hinzu, im Holztafeldruck hergestellte Blockbücher entstanden. Nach Erfindung der Buchdruckerkunst mit beweglichen Lettern wurde Hermann Schedels »Weltchronik« (1493) mit mehr als 1800 Holzschnitten das am reichsten illustrierte Buch der Frühdruckzeit.

Die älteste Arbeit der Ausstellung im Kupferstichkabinett ist ein niederländisches bzw. kölnisches Blatt mit dem Titel »Heiliger Christopherus zu Pferd« (1480–1500). Flächig und ornamental zeigt es, wie der Heilige einen Baum als Wanderstab nutzt und das segnende Christuskind durch den reißenden Fluss trägt. In Albrecht Dürers frühem Holzschnitt »Samson tötet den Löwen« (um 1497/98) – es geht hier um die Überwindung des Teufels und die Hinwendung zum Glauben – steigern Hell-Dunkel-Kontraste die Dramatik der Bildszene. Als Flugblatt hat Dürers wohl populärste Druckgrafik »Rhinozeros« (1515) die europäische Vorstellung von diesem exotischen Tier entscheidend geprägt.

Um 1500 kam in Venedig der Chiaroscuro-Holzschnitt auf; das italienische Wort bedeutet zu Deutsch »helldunkel«. Kontraste wurden noch stärker herausgearbeitet. Das Spiel mit Licht und Schatten verlieh den Arbeiten größere Tiefe, Spontaneität und Bewegung als zuvor. Allerdings verdrängten der Kupferstich und die Radierung ab Ende des 16. Jahrhunderts den Holzschnitt, der erst durch die Erfindung des Holzstichs – fein abgestufte Flächentöne konnten nunmehr mit malerischer Wirkung erzeugt werden – Ende des 18. Jahrhunderts wieder einen Aufschwung erfuhr.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert begann dann mit Künstlern wie William Nicholson, Felix Valloton, Paul Gauguin und Edvard Munch eine völlig neue Phase des Holzschnitts. So leuchten etwa in Munchs »Der Kuss IV« (1902) nur die Gesichter und Hände zweier Liebender aus den ineinander verschmolzenen schwarzen Körpern hervor. Sie tragen die Naturmaserung des Holzes. Die Arbeit wirkt dadurch roh und minimalistisch.

Der Holzschnitt wurde zum expressionistischen Ausdrucksmedium schlechthin. Das Verfahren reizte zum Beispiel die Mitglieder der Künstlergruppe »Brücke« – unter anderem Ernst Ludwig Kirchner und Max Pechstein – wegen der Unebenheiten und Maserungen, der unterschiedlichen Farbigkeit und Härte des Materials. Die starke Flächenhaftigkeit erzeugt in dem Blatt »Frauen am Potsdamer Platz« (1914) von Kirchner – es zeigt zwei auf einer runden Verkehrsinsel Ausschau haltende Prostituierte – eine ungeheure Dynamik. Karl Schmidt-Rottluffs »Mädchen vor dem Spiegel« (1914) zeigt eine nackte Person, deren Körper im Spiegelglas noch weiter verzerrt wird. Die klaren Linien und Kontraste des Holzschnitts lassen die grotesken Proportionen emphatisch hervortreten. Durchdringend schaut Schmidt-Rotluffs nur aus wenigen Linien gebildete »Große Prophetin« (1919) den Betrachter an – mahnt sie mit beschwörender Handbewegung an die Toten des Ersten Weltkriegs? Das Leid über den Kriegstod ihres Sohnes Peter bilden die Arbeiten von Käthe Kollwitz ab. Im Holzschnittverfahren fand sie ein Medium, mit dem sie den Kriegsschrecken und ihre Trauer in drastischer Form darstellen konnte.

Die Künstler der Nachkriegszeit arbeiteten mit der materialen Widerständigkeit und Spröde des Holzes, nutzten seine seine archaische Ausdrucksstärke. So bettete Joseph Beuys filigrane Motive in die natürliche Holzstruktur ein (»Hirschkuh« aus der Folge »Holzschnitte«, 1948). Gerhard Altenbourg ging es in »Verlöschende Spuren« (1973) um das Verwehen und Vergehen der Natur. A. R. Pencks Holzschnitte zeigen eine große Gemeinsamkeit mit seinen rohen Skulpturen aus Baumstämmen, die er mit Axt und Säge brachial aus der Naturform herausarbeitete. Durch den Druck von mehreren Stöcken verbinden sich in Georg Baselitz’ Arbeiten flächige Farbigkeit und Bildtiefe: Verstört blickt ein Frauenantlitz in dem Werk »Dresdner Frau I« (1990) in die Welt.

Dass der Holzschnitt auch in der Gegenwartskunst zur Anwendung kommt, beweisen etwa die Arbeiten des in Berlin tätigen Künstlers Matthias Mansen. Aus Fußbodendielen aus Berliner Altbauten hat Mansen seine Motive für den Zyklus »Potsdamer Straße« (2012) geschnitten. Sie zeigen Gebäude an der Straße im Westen der Stadt. Die dunklen Fassaden der Häuser lassen Helligkeit durchscheinen – es wirkt beinahe so, als wären sie in flimmernder Bewegung. Er schneide keine Linien, sondern Licht ins Holz, sagt Mansen über seine ästhetische Technik.

Auch heute im Zeitalter der flüchtigen digitalen Bilder hat der so flexibel einsetzbare Holzschnitt nichts von seiner Anziehungskraft verloren. Es ergeben sich immer wieder ungewöhnliche Bildwirkungen, die an Hochdruck und Fotografie entwickelte Sehgewohnheiten herausfordern.

»Holzschnitt. 1400 bis heute«, bis 11. September, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin.

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