Romane mit Reichweite

In jede Netflix-Serie fließt mehr Mut und Fantasie als in die neue deutsche Literatur

Mit großem Getöse hat sich in Berlin gerade eine Abspaltung des Schriftstellerverbands PEN gegründet, PEN Berlin. Vorausgegangen waren Querelen in der deutschen Sektion des PEN, einer Organisation, von der man gar nicht mehr sicher wusste, dass sie noch existiert. Die Details der Auseinandersetzung, so man sich in sie vertieft, ermüden schon nach Sekunden; zu der neuen Vereinigung muss man nur wissen, dass sie von einem führenden Springer-Mann angestoßen, von einem »Welt«-Chefredakteur empfohlen wurde und dass Jan Fleischhauer zu ihren Mitgliedern zählt. Während dieser ganze Budenzauber um die vorgebliche Freiheit des Worts veranstaltet wird, hetzt ein »Welt«-Autor ganz ungerührt auf Social Media seine Follower-Meute auf die Schwarze Autorin Elisa Aseva, weil die in einem Interview vage Sympathien für den Kommunismus durchscheinen ließ.

Gibt es überhaupt noch eine Schriftstellerei in Deutschland, die das Getöse wert wäre? Längst ist es ein offenes Geheimnis, dass es »die« Literatur schlicht nicht mehr gibt. Wenn irgendwo »Spiegel-Bestseller« draufsteht, wissen Branchenexpert*innen, dass das oft nur 2000 verkaufte Exemplare sind. Daneben explodiert ein unabhängiger, kaum erforschter Selfpublisher-Markt, dessen millionenstarke Gesamtauflage ihn zum eigentlichen literarischen Leben des Landes macht, ohne Rücksicht auf die Qualität. »Die« Literatur, die von Feuilleton, Fernsehsendungen, Literaturhäusern etc. vermarktet wird, ist eine Nischenveranstaltung, ähnlich wie die Pferdezucht: vor langer Zeit lebensnotwendig, jetzt Hobby eines kleinen Kreises von Leuten, die vom alten Dünkel nicht lassen können.

Leo Fischer
Leo Fischer
Leo Fischer war Chefredakteur des Nachrichtenmagazins »Titanic«. In seiner Satire-Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der aufgeregten Öffentlichkeit nützliche Vorschläge. Mehr unter dasND.de/vernunft

Vom Glanz der Verlagshäuser ist mit Glück noch der gute Name übrig geblieben; die wichtigste Frage an junge Autor*innen ist heute: »Bringst du eigene Reichweite mit?« – also entsprechende Social-Media-Follower*innen. Noch vor jedem Blick aufs Manuskript wird vorausgesetzt, dass die Autor*innen fertige Social-Media-Persönlichkeiten sind, die ihre Vermarktung selbst übernehmen. Der Hunger nach dieser Reichweite ist so groß, dass fast jede Journalist*in in Deutschland mit Twitter-Profil schon einmal das Angebot erhalten hat, einen Roman zu schreiben – ist ja logisch: kann schreiben und hat eigene Reichweite. Jackpot! Leider nehmen allzu viele ehrbare Kolleg*innen dieses Angebot geschmeichelt an. So entstehen mehrheitlich leider unlesbare, durch Fiktion illustrierte Meinungstexte, meist an eine beliebige Krimi- oder gar Regionalkrimihandlung geklatscht, die Vorstufe eines Tatort-Skripts. Spätere Literaturgeschichte wird hoffentlich unbarmherzig über dieses Zeitalter poetisierender Reporter*innen richten.

Die Gleichförmigkeit dieser Bücher ist der geistigen Erschöpfung der Verlagswelt zuzuschreiben, die alles darauf ausrichtet, dass der Buchhandel neue Regionalkrimis zum Ins-Regal-Stellen hat. Unvergessen sind mir die beschämenden Verlagsanfragen, die mir ein Freund, Autor komischer Kurzprosa auf Facebook, weiterleitete: Man sei Fan seiner Arbeit, wolle ihm ein Buch anbieten, aber bloß keine komische Kurzprosa, lieber einen Roman! Am besten einen Krimi, oder gleich einen Regionalkrimi. Die »Reichweite« beliebiger Texterzeuger*innen führt automatisch zur Krimikarriere, gleich, worauf diese Reichweite basiert. Geld gibt’s keins dafür, das hat man mit Lesungen selbst heranzuschaffen, und vielleicht noch das gute Gefühl, für 2000 Menschen Bestsellerautor gewesen zu sein.

Für diese Art literarischen Lebens lohnt die Aufregung nicht. Die Leute sollten fernsehen. In jede Netflix-Serie fließen mehr Mut und Fantasie als in die zeitgenössische deutsche Romandruckerei.

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