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Für eine Kultur des Hinschauens

Die Linkspartei plant Satzungsänderungen, um übergriffiges Verhalten künftig sanktionieren zu können

  • Kirsten Achtelik
  • Lesedauer: 5 Min.
Demonstration am Frauentag 2022 in München
Demonstration am Frauentag 2022 in München

Das Hauptproblem«, sagt Melanie Wery-Sims, »sind die Machtstrukturen in der Partei. Dass es solche auch in einer linken, sozialistischen Partei gibt, wollen manche nicht wahrhaben, deswegen werden solche Machtzentren eher verschleiert als aufgedeckt.« Kaum jemand traue sich, diese anzugreifen, weil es sehr wahrscheinlich sei, dass man dann verleumdet oder mit Dreck beworfen werde. Diese Strukturen müsse man aufbrechen, und das gehe nicht nur freundlich: »Wenn es nicht wehtut, ist es nicht genug.« Die Rheinland-Pfälzerin ist Mitglied des Bundesvorstandes und kandidiert auf dem Parteitag Ende Juni für den Posten der Bundesschatzmeisterin. Als eine der ersten hat sie nach dem Artikel im »Spiegel«, der im April den #LinkeMeToo-Skandal ausgelöst hatte, persönlich, empathisch mit den Betroffenen und ausführlich Stellung genommen. Dem Parteitag blickt sie hoffnungsvoll entgegen: »Wir werden dort nicht alle Probleme lösen können«, sagt sie »nd.DieWoche«, »aber wir müssen zeigen, dass wir es kapiert haben und in die richtige Richtung unterwegs sind.« Sanktionen bei übergriffigem Verhalten einzuführen, sei ein entscheidender Schritt.

An den alten Strukturen gibt es viel Kritik: zu wenig, zu intransparent, zu verflochten. Nun sollen neue, verlässliche Strukturen aufgebaut werden. Seit Kurzem gibt es eine Expertinnenkommission, die zurzeit aus zwei Personen besteht. Diese haben Honorarverträge und sind als Externe für Personen ansprechbar, die Übergriffe erlebt haben. Eine der beiden Expertinnen ist die Rechtanwältin Christina Clemm. Häufig vertritt sie Betroffene sexualisierter Gewalt vor Gericht und berät andere Parteien oder Organisationen bei Aufarbeitungsprozessen. Ihre Rolle besteht darin, »den Menschen, die sich hier melden, zuzuhören, die Angaben auf Kohärenz zu prüfen und gemeinsam mit ihnen zu entscheiden, welche Handlungsempfehlungen an die Partei weitergegeben werden«. Bei ihnen könnten sich alle melden, die im Zusammenhang mit der Parteiarbeit Übergriffe oder Grenzüberschreitungen erlebt hätten, sei es in der Fraktion, sei es aus Anlass einer Veranstaltung oder als Mitarbeiter*in. Weder die Betroffenen noch die Täter*innen müssten Parteimitglieder sein. Die Aussagen würden absolut vertraulich behandelt, sagt Clemm: »Wir machen nichts und geben nichts weiter, was die Betroffenen nicht wollen«. Deswegen kann die Anwältin auch nicht sagen, ob sich die Betroffenen aus Wiesbaden und Nürnberg bei ihnen gemeldet haben, deren Fälle den #LinkeMeToo-Skandal durch die Berichterstattung in »Spiegel« und »Taz« ausgelöst hatten. Parteien seien »machtintensive Strukturen« mit starken Hierarchien, die Gewaltverhältnisse zulassen oder sogar begünstigen. Das gelte auch für die Linkspartei. Es sei wichtig, diese Strukturen aufzubrechen und Gewaltschutzkonzepte zu verankern. Dafür müsse den Betroffenen die Möglichkeit gegeben werden, angstfrei über das Erlebte zu berichten. Die Unterlassungsklagen und Anzeigen gegen Betroffene, die ihre Vorwürfe öffentlich gemacht haben, seien »wirklich nicht hilfreich«. Es müsse eine Kultur des genauen Hinschauens etabliert werden, nicht der Leugnung. Clemm betont, sie sei kein Parteimitglied und stehe nicht dafür zur Verfügung, als Feigenblatt die Skandale so schnell wie möglich vom Tisch zu kriegen.

Eine Kontaktgruppe, bestehend aus Martina Renner, Claudia Gohde und Jörg Schindler, soll zwischen Expertinnenkommission und Parteivorstand vermitteln, die Empfehlungen der Kommission entgegennehmen und deren Umsetzung in die Hand nehmen. Außerdem hat der Vorstand Ende Mai beschlossen, dass bis Oktober eine Richtlinie für einen solidarischen und gewaltfreien Umgang in der Partei erarbeitet und Bildungsformate bereitgestellt werden sollen. Seit dem »Spiegel«-Artikel haben fast alle Landesverbände Stellungnahmen gegen Sexismus veröffentlicht, viele haben Maßnahmen beschlossen und Vertrauenspersonen oder Awareness-Beauftragte berufen.

In der Vergangenheit fehlende Strukturen und Handlungsmöglichkeiten bei sexistischem und übergriffigen Verhalten sieht Bettina Gutperl als Hauptproblem. »Bildungs- und Sensibilisierungsarbeit muss für Amts- und Mandatsträger*innen verpflichtend sein«, fordert das Vorstandsmitglied. Gutperl ist auch im Bündnis Frauen*kampftag Berlin aktiv. Vermachtete und Abhängigkeitsstrukturen gebe es überall, die Linkspartei trete jedoch für deren Abschaffung ein, müsse sie also auch in den eigenen Reihen bekämpfen: »Wir brauchen eine neue Kultur, dass wir eingreifen, wenn etwas passiert«, so Gutperl. Für den Parteitag hat sie »große Hoffnungen«.

Auf dem Parteitag ist eine Generaldebatte mit dem Schwerpunkt »Kampf gegen patriarchale Machtstrukturen, Gewalt und Sexismus« am Freitag für eine Stunde angesetzt, danach soll es ein Frauenplenum geben und parallel einen Workshop zu kritischer Männlichkeit. Die Beschlüsse zu den Satzungsänderungen sind für Sonntag früh angesetzt. Hier müssen die Mitglieder mit einer Zweidrittelmehrheit dafür stimmen, disziplinarische Maßnahmen wie das zeitweise Ruhenlassen von Ämtern oder Mitgliederrechten zuzulassen. Zurzeit gibt es außer einem Ausschlussverfahren und Reden gar keine Möglichkeiten.

Doch auch Letzteres wird zu wenig genutzt – das findet zumindest Sarah Dubiel, Bundessprecher*in und Awareness-Beauftragte der Linksjugend Solid. »Die Betroffenen werden weitgehend alleine gelassen«, sagt sie im Gespräch mit »nd.DieWoche«, »Angriffen aus der Partei stellt sich kaum jemand entgegen.« Auch sie und ihr Awareness-Kollege Jakob Hammes würden massiv angegriffen, »aber anscheinend macht den Leuten niemand auch nur eine Ansage – obwohl das auch ohne Satzungsänderung möglich ist«. Deswegen hat sie Angst, dass die Chance des Parteitags nicht genutzt wird, es keinen Aufbruch gibt, sondern ein »Weiter so«. Zwar gebe es nun auf vielen Ebenen Awareness-Beauftragte und Vertrauenspersonen, Dubiel befürchtet aber, dass dies häufig »unwirksame Marketinggags« sind: »Es kommt darauf an, wer das dann konkret wie macht, ob es tatsächlich einen Strukturwandel gibt.« Solange weiter versucht werde, Vorfälle herunterzuspielen, kleinzuhalten und Betroffene zum Schweigen zu bringen, werde das Problem offensichtlich nicht gründlich angegangen. Einige der Betroffenen sind mit Unterlassungsklagen und Anwaltskosten konfrontiert, und die Partei tue nichts, um hier zu helfen: »Es muss einen Solifonds zur Unterstützung geben«, fordert Dubiel. »Die Betroffenen sind jung und haben, anders als die Beschuldigten, keine Ressourcen. Stattdessen helfen wir mit Soli-T-Shirts, die man im Internet bestellen kann. Vorne ›Feminismus oder Schlägerei‹, hinten ›Täter schützen heißt Probleme bekommen!‹ – damit werden viele von uns auch auf dem Parteitag herumlaufen.« Dubiel ist überzeugt: »Wir wollen, dass die Linke wieder glaubhaft wird, nur so kommen wir doch aus der Krise heraus.«

Wery-Sims versteht die Wut der jüngeren Genoss*innen und ist »froh, dass sie weiter Druck machen. Wir brauchen diese Diskussionen«, sagt sie.

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