- Politik
- Wohnen in Thüringen
»Das ist doch irre!«
Auch auf dem Wohnungsmarkt in Thüringen geht es manchmal zu wie in München oder Berlin
Was klingt, als wäre es eine Geschichte aus einer boomenden Metropole, hat sich jüngst tatsächlich in Thüringen zugetragen:
Wohnungssuche. Angebot. Etwa 70 Quadratmeter. Kaltmietpreis ungefähr 500 Euro. Genau 32 Interessenten haben sich innerhalb kürzester Zeit auf eine entsprechende Anzeige gemeldet oder sonst wie von der bald frei werdenden Wohnung gehört. Es geht um eine einigermaßen schöne Wohnung, keine Frage. Aber um eine, die auch Nachteile hat. Mit ihren Dachschrägen beispielsweise werden sich die neuen Mieter erst mal arrangieren müssen. Viele Standardschränke werden dort nicht hineinpassen.
Das hat aber diejenigen nicht abgeschreckt, die diese Wohnung besichtigen. In kleinen Grüppchen durchschreiten sie die Räume. Ganz so, wie man das aus Berlin oder München kennt. »Völlig wahnsinnig, was da los war«, blickt Matthias Arndt* auf die Besichtigung zurück. »Damit hatte ich nie gerechnet.« Am Ende hat er sich gegen die Wohnung entschieden. Wegen des Preises, den er – qua Einkommen – zwar bezahlen könnte. Aber nicht bezahlen will, weil er ihn für »völlig unangemessen« hält. Und wegen des Schocks darüber, wie groß der Kreis der Interessenten war. »Da bleibe ich lieber noch ein paar Monate in meinem aktuellen Zuhause wohnen«, sagt er.
Was nach einer Besichtigung in Erfurt, Weimar oder Jena klingt, wo der Wohnungsmarkt seit Jahren ziemlich angespannt ist, hat sich in Bad Salzungen zugetragen. In einer Kleinstadt mit 16 000 Einwohnern auf dem Land im Westen Thüringens. Selbst dort werden mittlerweile Objekte zu diesen Preisen angeboten, und es gibt eine rege Nachfrage. Was ein Beweis dafür ist, dass sich im beschaulichen Freistaat der Wohnungsmarkt verändert hat und unübersichtlich geworden ist. Vergleichbares lässt sich auch in anderen Regionen Ostdeutschlands beobachten.
Freilich gab es noch nie den einen homogenen Immobilienmarkt. Da waren schon immer Wohnungen, die begehrt waren. Und solche, die man eben nahm, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Wohnungen, die sich nahezu jeder leisten kann. Und solche, die für die Mehrheit unerschwinglich sind. Doch spätestens seit der Finanzkrise von 2008 und dem Beginn der sich anschließenden Niedrigzinsphase hat sich die Lage auf dem Immobilienmarkt dermaßen verschärft, dass die Unterschiede zwischen den verschiedenen Segmenten immer größer geworden sind.
Der eine ziemlich gut fassbare und relativ transparente Wohnungsmarkt in Thüringen ist der von der organisierten Immobilienwirtschaft dominierte. Die Unternehmen sind mehrheitlich im Verband der Thüringer Wohnungs- und Immobilienwirtschaft (VTW) zusammengeschlossen. Insbesondere kommunale Wohnungsunternehmen und Genossenschaften haben sich dort vereinigt. Der Bereich umfasst rund 180 Unternehmen mit ungefähr 265 000 Wohnungen. Etwa jeder zweite Mieter in Thüringen wohnt bei einem dieser Mitgliedsunternehmen.
Nach Angaben des Verbandsdirektors, Frank Emrich, wurden mindestens 90 Prozent dieser Hunderttausenden Wohnungen vor 1990 errichtet. Oft handelt es sich dabei um Plattenbauten, die ein mieses Image haben, auch wenn sie bei genauerem Hinsehen sehr viel besser sind als ihr Ruf. Die Bausubstanz, ihr Sanierungszustand, das Umfeld – oft viel besser als bei vergleichbar alten oder noch älteren Ein- oder Mehrfamilienhäusern.
Und es gibt noch einen nicht unerheblichen Vorteil, den Emrich seit Jahren betont: Der Wohnraum ist »bezahlbar«. Auch Worte wie »kümmern« und »sozial« fallen regelmäßig, wenn der Verbandsdirektor über die von ihm vertretenen Unternehmen spricht. Erst vor wenigen Tagen hat Emrich, der gerne mit Zahlen jongliert, Daten vorgelegt, die diesen Anspruch unterstreichen sollen: Die durchschnittliche Kaltmiete der Verbandswohnungen, sagt er, habe im Dezember 2021 bei 5,26 Euro pro Quadratmeter gelegen.
Wohnungen der organisierten Immobilienwirtschaft machen ziemlich genau eine Hälfte des Mietmarktes im Land aus, die andere wird von privaten Wohnungseigentümern beherrscht. Das Spektrum geht hier weit auseinander. Manchmal sind das Privatleute, die sich Immobilien als Kapitalanlage oder Altersvorsorge gekauft haben, die bisweilen nur ein oder zwei Wohnungen vermieten. Seit die Zinsen extrem niedrig sind, finden sich aber auch immer mehr Investoren und Gesellschaften darunter, denen es eigentlich egal ist, ob sie ihr Geld in Gold, Aktien oder Immobilien stecken. Hauptsache, die Anlage bringt eine ordentliche Rendite. Dass Wohnungen aber viel mehr sind als Investitionsobjekte, interessiert sie meist wenig bis gar nicht.
Die Mietpreise auf diesem anderen, zweiten Wohnungsmarkt sind deutlich weniger transparent als die auf dem ersten. Es gibt eine Reihe von Studien dazu, die teilweise zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen, wenngleich sie alle eines gemeinsam haben: die Aussage nämlich, dass das Wohnen bei den privaten Kleinvermietern in der Regel teurer ist als auf dem ersten Wohnungsmarkt. Auch das 70-Quadratmeter-Angebot aus Bad Salzungen entstammt diesem Markt. Der Vermieter ist eine Privatperson, lebt selbst nicht in der Stadt.
Zum Vergleich: Nach Angaben des vtw würde die monatliche Kaltmiete für eine vergleichbare Wohnung bei einem Mitgliedsunternehmen im Durchschnitt etwa 120 Euro unter dem Preis liegen, den dieser Privatvermieter verlangt.
Emrich selbst nennt eine ganze Reihe von Gründen, warum Wohnungen bei privaten Vermietern oft deutlich teurer sind als bei den Verbandsunternehmen. »Die haben andere Wohnungen als wir«, sagt er. Außerdem sei die Kalkulation solcher Vermieter eine andere. Viele von diesen Objekten wurden erst nach 1990 gebaut, weshalb ihnen schon deshalb nicht das – oft unfaire – Sozialismus-Image eines DDR-Plattenbaus anhaftet. Zudem würden private Vermieter in der Regel mit einer höheren Rendite kalkulieren müssen als große Wohnungsunternehmen, sagt Emrich. Was allerdings die Nachfrage nach Wohnungen auf dem privaten Markt nicht trübt. Die Preise, die dort verlangt werden, sind für viele Menschen noch immer bezahlbar. Was man ungerecht finden mag oder nicht.
Emrich jedenfalls sieht das ziemlich nüchtern. »Ich will das nicht verteufeln«, sagt er. Schon allein deshalb nicht, weil es auch in Thüringen inzwischen einige VTW-Unternehmen gebe, die selbst einige Wohnungen im Hochpreissegment gebaut haben. »Bei uns gibt es auch Stadtvillen.« Wenn sich damit Geld verdienen lasse, so Emrichs Argument, sei das immerhin im Interesse des Gesamtunternehmens.
Zu denjenigen, die solche Wohnungen nachfragten, sagt Emrich, gehörten zum Beispiel Manager aus international aufgestellten Unternehmen, die sich in den vergangenen Jahren am Rande von Thüringer Kleinstädten angesiedelt haben. Die würden für vier, fünf Jahre an einem Standort bleiben und seien durchaus bereit und wirtschaftlich dazu in der Lage, 15 oder 20 Euro Kaltmiete pro Quadratmeter und Monat zu bezahlen, »wenn sie eine Tiefgarage, einen Aufzug und eine Dachterrasse dafür bekommen«.
Dass inzwischen auch VTW-Unternehmen Luxuswohnungen vermieten, deutet auf einen zunehmend unübersichtlichen Markt hin. Neben einer Spaltung in ersten und zweiten Wohnungsmarkt gibt es nämlich noch einen Riss zwischen Stadt und Land, der beide Märkte durchzieht. Weil die VTW-Daten transparent und präzise sind, lässt sich diese Spaltung anhand der Verbandswohnungen gut aufzeigen, zum Beispiel am Leerstand.
Während in Thüringen außerhalb von Erfurt, Weimar und Jena mehr und mehr Wohnungen von kommunalen Gesellschaften und Genossenschaften leer stehen, ist der vergleichbare Leerstand in den drei Thüringer Zentren, die alle entlang der Autobahn 4 liegen, seit Jahren konstant. Im ländlichen Raum hat der Leerstand inzwischen einen Anteil von etwa elf Prozent am gesamten Bestand der Verbandswohnungen erreicht. In Erfurt, Weimar und Jena ist er nur etwa ein Drittel so hoch – und das, obwohl viele dieser Wohnungen dort ungleich teurer sind als abseits dieser Ballungsräume.
Nun ist zu befürchten, dass in den kommenden Jahren die Grenzen der Wohnungsmärkte aufweichen werden, weil die stark gestiegen Energiepreise das Wohnen in absehbarer Zukunft viel teurer machen. Wenn im Sommer 2023 die Betriebskostenabrechnungen in den Briefkästen landen, rechnet Emrich damit, dass manche, die bislang vergleichsweise teuer bei privaten Vermietern gewohnt haben, sich das nicht mehr leisten können. Es wird nämlich mit hohen Nachzahlungen gerechnet. »Die Nebenkosten sind teilweise schon jetzt so hoch wie die Kaltmiete«, sagt Emrich. Manche werden wohl ihren Lebensstil und ihre Art zu wohnen ändern müssen. Sie werden ihre teuren Wohnungen aufgeben und günstigere anmieten. Selbst wenn es die Platte ist.
Vielen wird dann eine 70-Quadratmeter-Wohnung in Bad Salzungen bei einem Kaltmietpreis von etwa 500 Euro zu teuer sein. Wenngleich es auch dort Angebote gibt, die noch teurer sind. Man muss nur die üblichen Immobilienportale durchstöbern. Dann findet man auch dieses hier: Wohnungssuche. Angebot. 85 Quadratmeter. Kaltmietpreis 850 Euro. Also zehn Euro pro Quadratmeter. Matthias Arndt hat sich auch für diese Wohnung interessiert und den Vermieter kontaktiert, etwa eine Stunde nachdem das Angebot online erschienen war.
Ungefähr 20 Interessenten, habe ihm der Vermieter gesagt, hätten sich in dieser kurzen Zeit schon für die Wohnung gemeldet, erzählt er, der in der Mitte seines Lebens steht und aus familiären Gründen demnächst umziehen will. Mit fünf davon hätte der Vermieter schon Besichtigungstermine vereinbart, als er anrief. Er war zu spät. Dann schiebt er nach: »Das ist doch irre! Völlig irre.«
* Name geändert
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.