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Präkolumbianische Megastädte
Laserscanner finden verschollene Siedlungen in Amazonien. Der Irrglaube vom »unberührten« Dschungel ist widerlegt
Trotz etlicher archäologischer Fundstätten hält sich seit Jahrzehnten selbst in der Wissenschaft hartnäckig der Mythos von einer »unberührten«, kaum besiedelten Amazonasregion vor Kolumbus. Nun haben Forscher aus Deutschland und England diesen wissenschaftlichen Irrglauben abermals widerlegt. Sie fanden jetzt die überwucherten Relikte von rund 1500 Jahre alten, spektakulär großen Siedlungen im bolivianischen Amazonastiefland.
Bereits vor mehr als 100 Jahren beschrieb der schwedische Ethnologe Erland Nordenskiöld verlassene präkolumbianische Siedlungen im Amazonasgebiet Boliviens. Doch in seinen 1913 veröffentlichten Aufzeichnungen fehlte eine genaue Ortsangabe.
Ein Forscherteam des Deutschen Archäologischen Instituts in Berlin, der Universität Bonn und der Universität Exeter hat nun mehrere dieser Siedlungen mithilfe der Lidar-Technologie in der etwa 120 000 Quadratkilometer großen, saisonal überfluteten Amazonas-Savannen-Region »Llanos de Moxos« gefunden. »Unsere Ergebnisse entkräften die Argumente, dass das westliche Amazonien in vorkolumbianischer Zeit dünnbesiedelt war«, schreibt das Archäologenteam im Fachblatt »Nature«. Die Forscher sind schon seit 2019 in der Region aktiv. Sie setzen dabei von Hubschraubern aus die sogenannte Lidar-Technologie ein. Dabei wird die Erdoberfläche mit einem Laser detailliert gescannt. Unter dem dichten Laubdach entdeckten und vermaßen die Forscher auf diese Weise insgesamt 26 Siedlungen der sogenannten Casarabe-Kultur, die in dieser Region um das Jahr 500 auftauchte und um 1400 wieder verschwand. 15 dieser historischen Stätten waren zwar bereits bekannt, doch erst die Lidar-Technik brachte ihre tatsächlichen Ausmaße und Details ans Licht.
Zwei der Siedlungen, Cotoca und Landívar, waren regelrechte »Megastädte« mit einer Fläche von 147 sowie 315 Hektar, drei- bis siebenmal so groß wie die heutige Vatikanstadt. Die Komplexität dieser Siedlungen sei »überwältigend«, so Forschungsleiter Heiko Prümers vom Deutschen Archäologischen Institut, der bereits seit 1994 vergangenen Kulturen im bolivianischen Amazonasgebiet auf der Spur ist. Vor allem Cotoca habe alles, was man als Stadt bezeichnen könne. »Es ist eine riesige Siedlung, umgeben von einer Verteidigungsstruktur, mit einem zentralen Kern, in dem sich ein Zeremonienzentrum oder Verwaltungszentrum befindet. Natürlich ist das eine Stadt.«
Konkret zeigen die Lidar-Daten in Cotoca und Landívar große künstliche Terrassen von bis zu sechs Metern Höhe, auf denen sich massive, zum Teil U-förmige Plattformbauten aus Lehm und mehr als 20 Meter hohe, kegelförmige Pyramiden erheben. Die Ausrichtung der Bauten, die die zeremoniellen Zentren der beiden großen Städte bilden, ist einheitlich nach Nord-Nordwesten ausgerichtet, was, so die Studie, wahrscheinlich ein kosmologisches Weltbild widerspiegelt, das ebenso in der Ausrichtung ausgedehnter Friedhöfe der Casarabe-Kultur sichtbar werde.
Sowohl Cotoca wie auch Landívar sind von drei konzentrischen Verteidigungsanlagen umgeben, die aus einem Wassergraben und Wällen bestehen. Bei Cotoca indes sind die inneren Verteidigungsanlagen nur noch abschnittsweise erhalten, was nach Meinung der Archäologen darauf hindeuten könnte, dass im Zuge des Stadtwachstums die Wallanlagen entsprechend angepasst wurden.
Beide Fundstätten sind Knotenpunkte eines Netzwerks von kleineren und größeren Siedlungen, verbunden durch noch heute sichtbare, schnurgerade Dämme, die strahlenartig von diesen Orten aus viele Kilometer weit die Überschwemmungslandschaft durchziehen. Eine umfangreiche Wasserwirtschaftsinfrastruktur, bestehend aus Kanälen und Stauseen, vervollständigt das Siedlungssystem.
Cotoca, so die Forscher, sei das Zentrum eines etwa 500 Quadratkilometer großen Siedlungsgebiets gewesen, das heute jeweils zur Hälfte mit Regenwald und Savanne überwachsen ist. »Die zentrale Rolle von Cotoca wird durch das beeindruckende System von Kanälen und Dämmen unterstrichen, die in alle Himmelsrichtungen ausstrahlen.«
Die entdeckten Städte der Casarabe-Kultur sind vergleichbar mit den Monumentalbauten der Tiahuanaco, der Inkas, Mayas oder Azteken mit dem fundamentalen Unterschied, daß hier in den Llanos de Moxos kein einziger Stein verbaut wurde. In dem mehrere Monate im Jahr überschwemmten Gebiet gibt es schlicht keine zu verarbeitenden Felsen, nur Ton und Sand. Die Dämme, Verteidigungswälle und Plattformen der repräsentativen Gebäude wurden alle aus Erdreich geschaffen. Und von den darauf errichteten Holzbauten zeugten nur noch die Pfostenlöcher, so Prümers.
Warum diese Städte noch vor Eintreffen der Spanier aufgegeben und sich selbst überlassen wurden, ist indes weiterhin ein Rätsel. Eine ökologische Katastrophe durch nicht nachhaltige Landwirtschaft und Waldnutzung durch die Casarabe-Kultur kann aber weitestgehend ausgeschlossen werden. Pollenaufzeichnungen zeigen, dass ihr Hauptnahrungsmittel, Mais, in der Region über Tausende von Jahren hinweg ununterbrochen angebaut wurde, was auf eine nachhaltige Bodennutzung hinweist.
Die Verteidigungswälle und -gräben der beschriebenen Casarabe-Metropolen allerdings deuten auf massive Bedrohungen von außen und auf kriegerische Auseinandersetzungen hin. »Das Vorhandensein von Verteidigungsanlagen lässt tatsächlich auf nicht ganz so friedliche Zeiten schließen«, sagt der Archäologe auf Anfrage dem »nd«. »Um sagen zu können, warum sie erbaut wurden, müsste man aber eine ganze Reihe von Parametern kennen, die im vorliegenden Fall fast alle noch nicht bekannt sind. Wann im Laufe der rund 900 Jahre andauernden Nutzung der Siedlungen der Casarabe-Kultur wurden die Verteidigungsanlagen gebaut? Wenn diese zeitliche Frage geklärt wäre, müssten archäologische Untersuchungen in den Nachbarregionen erfolgen.«
Gleichzeitig zur Casarabe-Kultur entwickelte sich zwar im Westen Boliviens, im Andenhochland, über eine lange Zeitspanne hinweg die sehr expansive Tiahuanaco-Kultur. »Für ein Vordringen der Tiahuanaco bis in das Gebiet der Casarabe-Kultur gibt es aber bislang keinerlei Hinweise«, so Prümers. »Und die Regionen östlich und südlich der Casarabe-Kultur sind archäologisch noch vollständig unerforscht.«
Auch über den Ursprung dieses noch mysteriösen Volkes oder seiner Kultur, die nach dem heute etwa 1000 Einwohner zählenden bolivianischen Dorf Casarabe nahe der ersten Fundstätte benannt wurde, weiß man noch nichts. »Woher sie kamen? Das ist eine der schwierigsten Fragen in der Archäologie. Wahrscheinlich entwickelte sich die Casarabe-Kultur aus lokalen Gruppen, die dort schon länger gelebt haben. Diese Vorläufer suchen wir noch.« Prümers: »Wir stehen ganz am Anfang der Erforschung der vorspanischen Kulturen des geographischen Großraumes Amazonien. Dass wir jetzt nachweisen können, dass es im bolivianischen Teil Amazoniens eine Art von Urbanismus gegeben hat, der den Entwicklungen im Andenraum in nichts nachsteht, wird hoffentlich zu mehr archäologischer Forschung in Amazonien führen und irgendwann dann auch ermöglichen, Fragen wie die von ihnen gestellten zu beantworten.«
In einem Bericht der Zeitung »Folha de São Paulo« bewertet der brasilianische Archäologe und Amazonasspezialist Eduardo Neves die Entdeckung in Llanos de Mojosa als einen archäologischen Meilenstein, der Anlass für viele Studien in der Region geben wird. Jedes Bild in dem »Nature«-Artikel, so der Forscher an der Universität São Paulo, enthalte Material für die archäologische Forschung für die nächsten zwanzig oder dreißig Jahre. Neves: »Heiko Prümers ist der beste Feldarchäologe, den wir im Amazonas haben.« Ähnlich urteilt Christopher T. Fisher von der Colorado State University. »Die Arbeit von Prümers und Kollegen ist die Eröffnungssalve einer neuen amazonischen Orthodoxie, die das aktuelle Verständnis der amazonischen Vorgeschichte infrage stellt und unser Wissen über tropische Zivilisationen grundlegend bereichert.«
Welche Bedrohung die Casarabe vor rund 600 Jahren zum Bau von Befestigungen zwang und wer oder was ihre Kultur zum Verschwinden gebracht haben könnte, wissen die Forscher noch nicht. Wir kennen jedoch die heutigen Hauptbedrohungen der fragilen Zeugnisse und vielleicht noch anderer unentdeckter vorkolumbianischer Kulturen in Amazonien: Es ist die rasant fortschreitende Zerstörung von Savannen und Regenwäldern für Rinderweiden und Sojaplantagen sowie ihr Untergang in Riesenstauseen für Megawasserkraftwerke wie Jirau und Santo Antônio am Madeira-Fluß oder Belo Monte am Rio Xingu.
Entwaldung, so Prümers, bringe oft auch die Vernichtung bislang unbekannter archäologischer Stätten mit sich, die einfach von Bulldozern »überfahren« werden. »Sie werden für immer zerstört.« Forscherkollege Neves hofft, dass ein wachsendes Interesse an der Amazonas-Archäologie zum Schutz gefährdeter möglicher Fundorte führt.
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