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Die Toten, die Lebenden und die Zahlen
Jeja nervt: Der arrogante Umgang mit Pflegekräfte
Seit Wochen streiken die Beschäftigten der sechs Unikliniken in Nordrhein-Westfalen dafür, dass sich ihre desaströsen Arbeitsbedingungen – und damit die Pflege- und Genesungsbedingungen der Patient*innen – verbessern. Wir erinnern uns: Im ersten Jahr der Pandemie wurde das Coronavirus in Deutschland noch ernst genommen. Entsprechend wurde hingesehen, unter welchem, auch lebensgefährlichen Einsatz Gesundheitsarbeiter*innen und Ärzt*innen um ihre Patient*innen kämpften und kämpfen. Dafür hagelte es buchstäblichen Applaus.
Doch die personelle Unterbesetzung, die inzwischen auf den Stationen herrscht, ist nicht erst Ergebnis des über zwei Jahre verfehlten Pandemiemanagements. Das verrechnet die »Freiheit« der vielen mit der Lebenssubstanz derjenigen, denen das Resultat per Rettungswagen vorgesetzt wird. Dass immer mehr Beschäftigte weit über die Grenzen ihrer physischen und psychischen Belastbarkeit getrieben wurden, hat seinen Anfang schon weit vor Beginn der Corona-Pandemie genommen – in einem hemmungslos auf Effizienz eingeschworenen System, das für den Normalfall vor allem schwarze Zahlen, für den Ausnahmezustand jedoch Versehrte und Tote vorsieht.
Was die seit Jahrzehnten vorangetriebene neoliberale Umstellung des Gesundheitssystems für die Arbeiter*innen, Angestellten und Erkrankten bedeutet, davor wurde seit Langem und immer wieder gewarnt. Vergebens: Keine noch so absurde Anekdote etwa aus dem seit 2004 etablierten Fallpauschalensystem konnte die Öffentlichkeit in all diesen Jahren wachrütteln. Kein Wunder, gilt doch bei Fragen von Leben und Tod und der grundlegenden Verletzlichkeit menschlichen Daseins das Prinzip Verdrängung.
Sterben, das stört nur dabei, sich fleißig aufs Produzieren und Konsumieren zu konzentrieren, die Begleichung der Rechnung aber auf später zu vertagen. Selbst als sich irgendwann alle einig wurden, wie zynisch die Applausgesten gegenüber den Ausgebeuteten eigentlich gewesen sind, als der Beifall also zum Treppenwitz in der Krankenpflegedebatte mutiert war, änderte sich an der Unlust, sich mit den Zuständen zu konfrontieren, nichts. So brauchten jene, die in den Häusern auf »Wirtschaftlichkeit« zu achten hatten, kaum zu fürchten, dass man sich mit den immer wieder arbeitskämpfenden Beschäftigten solidarisieren würde. Dass dies oft Frauen sind, deren »freiwillige« Aufopferung für andere zur lebensweltlichen Grundintuition unter kapitalistisch-patriarchalen Bedingungen gehört, kommt zur Todesverdrängung noch dazu.
Rund 20 000 Kräfte sollen alleine in den Krankenhäusern Nordrhein-Westfalens fehlen, heißt es vonseiten der Pflegerebell*innen. Auch deshalb fordern sie unter dem Motto »Notruf NRW« einen »Tarifvertrag Entlastung«. Dabei wird häufig in Tarifverträgen die Lohnhöhe festgelegt, nicht die Anzahl der Kolleg*innen. Der Vertrag soll die Besetzung der Krankenhäuser verbindlich regeln, weil sich nur so die Versorgung der Patient*innen sicherstellen lässt. Wird der Personalschlüssel unterschritten, sollen die, von denen sonst erwartet wird, jede eingepreiste Unterbesetzung zulasten des eigenen Lebens aufzufangen, Ausgleichszahlungen erhalten. Die gewalttätige Abnutzungsschlacht gegen die Körper der Pflegenden würde also plötzlich Geld kosten.
Bereits im Januar wurden die Forderungen als Ultimatum an die Politik gerichtet. Die sollte noch vor den Landtagswahlen vom 15. Mai in NRW den gesetzlichen Rahmen und Gelder bereitstellen. Das ist nicht geschehen. Seitdem wird gestreikt. Klar, dass Vorwürfe, mit dem Wohl der Patient*innen zu spielen, trotz zweieinhalb Jahren Kampf an der Corona-Front nicht ausblieben. Und tatsächlich: Wegen der Arbeitsniederlegungen mussten nicht nur Operationen verschoben werden und Notfallpatient*innen mussten warten – Umstände, die die Uniklinik Bonn vergeblich einem Gericht vortrug: Es möge den Streik doch bitte beenden. Der bekannte Mathelehrer*innen-Kalauer fragt bei fehlenden Maßangaben die Schüler*innen gern nach Äpfeln und Kartoffeln. Die neoliberale Realität aber antwortet: »Tote.«
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