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Zufällig Popstar
Dass er die Beatles verließ, nahmen Kritiker Paul McCartney ziemlich übel. Nun ist er 80 Jahre alt und füllt noch immer weltweit Stadien
In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre musste sich der Liverpooler Schüler Paul McCartney mal auf eine Lateinprüfung vorbereiten. Doch statt zu lernen, traf er sich mit seinem Freund John Lennon, um Songs zu schreiben. McCartney fiel durch, musste daher die Klasse wiederholen und traf unter seinen neuen Mitschülern auf den Gitarristen George Harrison. Ein paar Jahre darauf, nach der Rückkehr von der ersten Konzertreihe der Beatles in Hamburg, begann McCartney in Liverpool in einer Kabelfirma zu arbeiten. Später erklärten seine damaligen Kollegen gegenüber Reportern, dass sich der junge Mann gut angestellt und eine vielversprechende Zukunft als Kabelmacher vor ihm gelegen hätte.
Es ist kaum auszudenken, was im einen Fall passiert wäre, hätte McCartney, vom Ehrgeiz gepackt, doch noch die tote Sprache gebüffelt oder im anderen Fall, von der guten Meinung seiner Umgebung und von der Aussicht auf finanzielle Sicherheit gelockt, ernsthaft eine berufliche Zukunft als Kabelmacher erwogen. Denn dann wären sich McCartney und Harrison nie begegnet oder die Beatles als Band nie erfolgreich geworden.
Die beiden Beispiele, denen sich leicht viele weitere hinzufügen lassen, illustrieren, dass es sich mit den Beatles verhält wie mit der Erde. Schon die geringfügigste Änderung im Ablauf der Ereignisse hätte hier die Karriere der berühmtesten Popgruppe aller Zeiten im Keim erstickt und dort das Entstehen eines bewohnbaren Planeten im All verhindert.
Von seiner ruhmreichen Zukunft ahnte der 1942 geborene McCartney während seiner Kindheit und Jugend natürlich nichts. Ebensowenig wie seine Mutter Mary, die als Hebamme den Hauptteil des Familieneinkommens bestritt. Und erst recht nicht sein Vater Jim, ein Baumwollhändler, der am Feierabend wie viele seiner Verwandten gerne sang und Klavier spielte. Doch genau diese von den Eltern vorgelebte Bodenständigkeit und der Optimismus, für sämtliche Probleme des Privat- und Berufslebens Lösungen finden zu können, gefiel ihrem Sohn, wie er später mal in einem Interview erzählte. Sie hätten ihm dabei geholfen, sich auf etwas zu fokussieren wie ein Samurai und fleißig wie ein Eichhörnchen Melodien zu sammeln.
Mit diesen Eigenschaften von zu Hause ausgestattet, konnte McCartney, zusammen mit John Lennon und in späteren Jahren auch allein, alle drei bis vier Monate einen weiteren Welthit wie »She Love’s You« , »A Hard Day’s Night«, »Strawberry Fields Forever«, »All You Need Is Love«, »Hey Jude«, »Get Back« oder »The Long and Winding Road« für die Beatles schreiben.
Damit richteten sie einen beträchtlichen kulturellen Flurschaden an. Denn schon die Veröffentlichung ihrer ersten erfolgreichen Single »Please Please Me« verwandelte Anfang 1963 über Nacht die Karrieren ganzer Kohorten damals aktueller Stars – etwa die Popmusiker Helen Shapiro oder Cliff Richard, um nur zwei der bekanntesten zu nennen. Ein durch die Beatles bewirktes Karriereende ereilte damals sogar auch Menschen, die nicht mal Musik machten. Darunter die Fotografin Astrid Kirchherr. Als sie begriff, dass sich niemand für ein Bild von ihr interessierte, wenn kein Beatle darauf zu sehen war, gab sie ihren Beruf auf. Die nächsten Jahre verdingte sie sich als Nackttänzerin im Hamburger Vergnügungsviertel St. Pauli.
Doch der überwiegende Teil junger Menschen auf der ganzen Welt freute sich über eine Band, welche beim Singen ständig dazu aufzufordern schien, einen anderen als den tatsächlich gesungenen Text zu verstehen. Viele Fans entwarfen deshalb einen »eigenen« Beatlessong. Unter ihnen auch Bob Dylan, der beim Anhören von »I Want to Hold Your Hand« im Mittelteil »I get high« verstand, wo die Beatles tatsächlich »I can’t hide« gesungen hatten.
Für ihre Songs und auch für die sich daraus ergebenden Missverständnisse wurden Lennon und McCartney beneidet, geliebt und von manchen Kommentatoren »für die größten Komponisten seit Schubert« gehalten. Doch für McCartney endete solche Verehrung abrupt im April 1970. Denn da erschien zu seinem erstem Solo-Album ein Interview, in welchem er seinen Ausstieg aus der Band und damit deren Ende erklärte.
Zu sagen, dass zeitgenössische Kritiker McCartneys Entscheidung sehr persönlich nahmen, wäre stark untertrieben. Vielmehr trug McCartney für sie – zusammen mit der bösen Yoko Ono – die Hauptverantwortung für ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Fortan gestanden Kritiker jedem Piep aus dem Mund von John Lennon zu, ausschließlich aus tiefstem Schmerz und Kindheitstraumata geboren worden zu sein. So fiel es leichter, den Solo-Künstler McCartney als einen peinlichen Schnulzenheini abzustempeln, als eine Art englisch trällernden Roy Black. Dabei erhielten sie auch noch Rückendeckung von Lennon, der in seinem Lied »How Do You Sleep?« behauptete, dass McCartney sowieso fast nie etwas Nennenswertes zustande gebracht hätte. Die Ballade »Yesterday« sei, so Lennon, »das Einzige, was dir je gelungen ist«. McCartneys bis heute anhaltender Erfolg sorgte für zusätzlichen Ärger. Denn statt gefälligst wie ein abgehalfteter Schlagersänger am Karriereende in Möbelhäusern aufzutreten, füllt McCartney bis heute weltweit Stadien. Es brauchte rund dreißig Jahre, bis sich Kritiker von der ihnen durch McCartney vermeintlich angetanen Kränkung erholten. So wird er erst seit Beginn des 21. Jahrhunderts als jemand gewürdigt, der mehr musikalische Fragen gestellt und Antworten vorgeschlagen hat als die allermeisten anderen. Erst jetzt wird ihm zugestanden, so viele tolle Melodien komponiert zu haben, wie Bob Dylan tolle Zeilen gelungen sind. Andererseits kann die Lektüre von Artikeln über McCartney heute den seltsamen Eindruck hinterlassen, dass es in seinem Leben um nichts ginge außer darum, den nächsten Plattenverkaufsrekord aufzustellen. Doch zumindest ein weiterer Rekord lässt sich beim Anschauen von Videos auf den einschlägigen Videoportalen erahnen: So viele Frauen und Männer, die Tränen des Glücks weinen, lassen sich nur bei Konzerten von Paul McCartney erleben. Am 18. Juni wird er 80 Jahre alt.
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