Appell an die Nato

Friedensgutachten 2022: Maßnahmen für Deeskalation und nukleare Abrüstung gefordert

Auch das diesjährige Friedensgutachten der fünf großen Friedens- und Konfliktforschungsinstitute der Bundesrepublik steht im Zeichen des Ukraine-Krieges. Einer der Schwerpunkte der am Dienstag veröffentlichten Publikation ist die neue Rüstungsspirale, die nach der russischen Invasion in seinem Nachbarland in Gang gesetzt wurde – und insbesondere die «nuklearen Rüstungsdynamiken und Eskalationsrisiken», denen ein Kapitel gewidmet ist. Russland, konstatieren die Autoren, nutze sein Kernwaffenpotenzial, um die direkte Kriegsbeteiligung von Drittstaaten bzw. der Nato zu verhindern. Es sei heute «notwendiger denn je, die Gefahren einzuhegen, die von Kernwaffen ausgehen».

Bemerkenswert: Für die Experten ist klar, dass eine Beibehaltung der international praktizierten Abschreckungsdoktrin mit faktisch immer mehr Waffen der falsche Weg ist. Denn es gelte weiterhin: «Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf nie geführt werden.» In dem Zusammenhang appellieren die Friedensforscher an die Nato, offiziell ihren Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen zu erklären, um die Eskalationsspirale zu durchbrechen. Die Bundesregierung solle ihrerseits erklären, sich «an keinem Ersteinsatz von Kernwaffen zu beteiligen und bei den Kernwaffenstaaten dafür werben, ebenfalls solche Erklärungen abzugeben, insbesondere bei der Nato. Mittelfristig müsse Deutschland zudem seinen »Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe« einleiten. Dies hatte in der vergangenen Legislatur der damalige SPD-Außenminister Heiko Maas vehement abgelehnt. Auch seine Amtsnachfolgerin Annalena Baerbock (Grüne) bekannte sich nach Amtsantritt zu deren angeblicher Notwendigkeit, um sich gegen Aggressionen insbesondere von Seiten Russlands zu schützen.

Auch mit Blick auf die Sanktionen gegen Russland raten die Wissenschaftler zu mehr Weitblick. Es gelte schon jetzt, Voraussetzungen zu formulieren, unter denen sie zurückgenommen werden. Die wichtigste wäre »zweifelsohne ein Waffenstillstand«, so die Forscher. Sanktionen könnten zwar als Druckmittel gegen Staaten eingesetzt werden, die internationale Regeln verletzen. »Allerdings lösen sie keine Krisen und können im schlechtesten Fall Notlagen verschärfen und politische Repression und Korruption befördern«, betonen die Experten. Deshalb sei es wichtig, Erfolg oder Misserfolg der Maßnahmen zu überwachen und gegebenenfalls umzusteuern. Zudem müsse die Zeit nach dem Krieg schon geplant, Strategien für eine »neue europäische Friedensordnung« müssten entwickelt werden.

Die Institute warnen auch vor neuen militärischen Konflikten infolge des Ukraine-Kriegs. Durch den starken Anstieg der Rohstoff- und Lebensmittelpreise – der allerdings lange vor dem Krieg einsetzte – drohe »insbesondere den afrikanischen Entwicklungs- und Schwellenländern eine Ernährungskrise«. Bereits in der Vergangenheit seien steigende Lebensmittelpreise insbesondere in Nord- und Ostafrika »immer wieder Anlass sogenannter ›Brotaufstände‹« gewesen.

Auch unabhängig vom Ukraine-Kriegs stieg die Zahl gewaltsamer Konflikte: Von 128 militärischen Auseinandersetzungen weltweit im Jahr 2020 seien 78 auf dem afrikanischen Kontinent verzeichnet worden, schreiben die Wissenschaftler.

Das Friedensgutachten erscheint seit 1987 jährlich und wird von Forschern des Bonn International Centre for Conflict Studies, der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg und des Instituts für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg-Essen gemeinsam erarbeitet.

Unterdessen vollzieht sich in der Bundesrepublik, seit der von Kanzler Olaf Scholz (SPD) am 27. Februar die »Zeitenwende« ausrief, eine Entwicklung, die im Gegensatz zu den Vorschlägen der Friedensforscher steht. Auf der einen Seite steigert die Ampel-Koalition ihre jährlichen Militärausgaben ab sofort auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts und schuf das sogenannte Sondervermögen für die Bundeswehr. Letzteres beläuft sich auf 100 Milliarden Euro und bekam, abgesegnet von Bundestag und Bundesrat, Verfassungsrang.

Auf der anderen Seite verabschiedete sich die Koalition von ihrem Grundsatz, keine Waffen in Kriegsgebiete zu exportieren. Am Dienstag hob die Bundesregierung zudem die Geheimhaltung der konkreten Ausfuhren von Kriegsgerät in die Ukraine auf. Man passe sich damit der Praxis der engsten Verbündeten an, erklärte Regierungssprecher Steffen Hebestreit dazu. Eine am Dienstag veröffentlichte Liste enthält alle Waffen und Rüstungsgüter, die bereits an Kiew geliefert wurden oder deren Lieferung geplant ist. Sie ist nun im Internet auf der Seite der Bundesregierung zu finden. Bisher war sie nur für Abgeordnete in der Geheimschutzstelle des Bundestags einsehbar. An Waffen geliefert wurden bisher unter anderem 3000 Panzerfaust-Patronen, 100 000 Handgranaten und 500 Stinger-Flugabwehrraketen.

Noch geliefert werden sollen unter anderem sieben Panzerhaubitzen 2000 und 10 000 Schuss für sie geeignete Munition, 40 Aufklärungsdrohnen und 30 Flugabwehrpanzer Gepard inklusive etwa 6000 Schuss Munition, ein Luftverteidigungssystem Iris-T SLM und drei Mehrfachraketenwerfer mit Munition.

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