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- Kritik der Polizei
Die Sicherheit der Anderen
Das Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg gehört zu einer Handvoll Kieze, die von der Polizei zu »Kriminalitätsbelasteten Orten« erklärt wurden. Nun soll direkt am »Kotti« auch noch eine Polizeiwache installiert werden
Der Berliner Stadtteil Kreuzberg ist seit vielen Jahrzehnten weit über die Stadt hinaus bekannt – lange vor allem als linksalternatives Refugium, in dem Häuser besetzt werden, Jugendliche »Gangs« gründen und wo es am 1. Mai »knallt«. Polizei und weite Teile der Politik blickten auf die linke Militanz schon immer als schlichte Kriminalität, und über das vergangene Jahrzehnt wurde Kreuzberg zunehmend mit Aktivitäten wie Drogenhandel, Taschendiebstahl oder nächtlichen Schlägereien assoziiert – ganz besonders der Ort »Kottbusser Tor«. Genau hier soll nun die (bereits seit Langem hohe) Polizeipräsenz durch den Bau einer Polizeiwache konsolidiert werden. In der Darstellung des rot-grün-roten Berliner Senats soll die geplante Wache in den Räumen des angrenzenden Gebäudekomplexes Neues Kreuzberger Zentrum (NKZ) für mehr Sicherheit vor Ort sorgen.
Von außen betrachtet erscheint das vielen, die den Ort aus den Medien als »gefährlich« oder sogar als »gefährlichsten Ort Deutschlands« kennen, zunächst sinnvoll. Laut der Berliner Innensenatorin Iris Spranger und zahlreichen anderen Politiker*innen existiert auch »seit Langem der große Wunsch der Anwohner und Geschäftsleute nach einer Polizeiwache am Kottbusser Tor«. In Wirklichkeit herrschen vor Ort viele verschiedene, komplexe Einstellungen gegenüber der Polizei, die nicht in einem Satz zusammengefasst werden können. Um zu verstehen, was Sicherheit am Kottbusser Tor für die Menschen bedeutet und wie sie hergestellt werden kann, müssen diejenigen gehört werden, die dort leben. Nur sie kennen wirklich die speziellen Umstände der Geschichte, die das Kottbusser Tor zu dem gemacht hat, was es ist – und die Gemeinschaft hervorgebracht hat, die heute dort vorzufinden ist.
Nora Keller befindet sich in den letzten Zügen einer juristischen Promotion zu Polizei, Sicherheit und »gefährlichen Orten« und lebt in Berlin-Neukölln zwischen Hermannplatz und Kottbusser Tor.
Im Rahmen einer noch unveröffentlichten universitären Forschungsarbeit habe ich zwischen 2018 und 2021 Interviews durchgeführt, in denen Menschen, die am »Kotti« leben, arbeiten oder sich primär dort aufhalten, erzählen, was für sie an dem Ort tatsächlich gefährlich ist, was ihn sicher macht und welche Rolle die Polizei dabei spielt. Dass sich die Anwohner*innen des Kottbusser Tors an ihrem Wohnort größtenteils sicher, manche sogar sicherer als an anderen Orten fühlen, beschrieb bereits eine Studie der Stadtsoziologin Talja Blokland aus dem Jahr 2021. Begründet wurde dieses Gefühl der Sicherheit hauptsächlich mit einem besonders stark ausgeprägten Vertrauen in die lokalen Nachbarschaftszusammenhänge und der herrschenden Überzeugung, dass die Nachbar*innen aufeinander aufpassen und sich im Notfall zur Hilfe kommen. Die nachbarschaftliche Organisierung und Solidarität am Kottbusser Tor beschreiben auch viele meiner Interviewpartner*innen als besondere Stärke der Gemeinschaft am Ort. So ist beispielsweise Louana, die sich fast täglich am Kottbusser Tor aufhält, der Meinung, man könne dort »ganz viel mit dem Zusammenhalt hinkriegen.«
Dieser Zusammenhalt wurde auch als eine Notwendigkeit beschrieben, die sich daraus ergibt, dass die Polizei aus Sicht vieler Anwohner*innen lange eben nicht ausreichend für Sicherheit am Ort sorgte, sowie als Folge einer generellen stadtpolitischen Vernachlässigung des Kottbusser Tors. Der Anwohner und Sozialarbeiter Serdar beschreibt etwa, wie manche Laternen trotz mehrfacher Bitten von Anwohner*innen seit über zwei Jahren nicht repariert werden und so dunkle Räume entstehen, die sich unsicher anfühlen. Die Grundschullehrerin Alima erzählt, wie Obdachlose und Drogenkonsument*innen auf dem Schulgelände Unterschlupf suchen, was Kinder und Eltern erschrecke und verunsichere. Für diese Umstände machen Anwohner*innen unter anderem eine rassistisch diskriminierende Stadtpolitik verantwortlich, wie etwa der Anwohner Benja, der erklärt, viele Nachbar*innen hätten »den Eindruck, naja, hier bei uns Türken – in Anführungsstrichen – kann man‹s ja machen. In den deutschen, reicheren Stadtteilen wird das nicht so lange geduldet.«
Eine Deutung dieser Aussage als bloßer Ruf nach mehr Polizei wäre allerdings verkehrt. Dies formulierte ein Zusammenschluss von Anwohner*innen und Gewerbetreibenden bereits im Jahr 2015 in einem Brief an den Berliner Senat, in dem sie schrieben: »Was wir dringend benötigen, sind gemeinsame Handlungsstrategien, die wiederum nur dann entstehen können, wenn wir die Vielfalt der Stimmen aus dem Kiez als Ressource in die Lösung einfließen lassen. Wir fordern weder Verschärfung der bestehenden Gesetze noch schlicht mehr Polizisten, sondern vor allem Gleichbehandlung. Wir fordern, dass sich die Akteure ohne Vorurteile und Scheuklappen an einen Tisch setzen.« Die gewünschte Gleichbehandlung und der Diskurs auf Augenhöhe haben nach Ansicht vieler bis heute nicht stattgefunden. Aus dieser Situation heraus sind Nachbar*innen wiederum darauf angewiesen, sich gegenseitig zu unterstützen – und das geschieht auch. Die Nachbarschaftsinitiative Kotti & Co beispielsweise kämpft seit über zehn Jahren mit eindrücklichen Erfolgen gegen das, was für viele Anwohner*innen nämlich tatsächlich eine existenzielle Gefahr am »Kotti« darstellt: steigende Mieten.
Als Beispiel dafür, wie die Nachbarschaft in Notfällen für ihre eigene Sicherheit sorgt, erzählt der Gewerbetreibende Çelik von einer Situation, in der ihn zwei Männer in seinem Laden überfallen wollten. Einer der beiden kam hinter den Tresen, hielt ihm mit einer behandschuhten Hand den Mund zu und versuchte, ihn zu Boden zu ringen. Bevor er angegriffen wurde, hatte Çelik jedoch noch Zeit, um Hilfe zu rufen: »Ich hab’ schön meinen Nachbarn gerufen … der kam und dann sind die verschwunden.« Auf meine Frage, ob er in dem Moment auch darüber nachgedacht hätte, die Polizei zu rufen, winkt er ab und begründet dies in erster Linie ökonomisch: Er ist der Meinung, die Nachbarschaft kenne die Situation am »Kotti« besser als die Polizei, die darum häufig umsonst oder zu spät komme oder länger bräuchte, um Probleme zu lösen. Das sieht Çelik als eine Verschwendung öffentlicher Gelder und ist der Meinung, man könne das Geld »besser ausgeben, für Bildung und so was«.
Kein Geld für soziale Härten
Çeliks ökonomische Abwägung bekommt zunehmende Relevanz mit der Planung der neuen Wache: Für deren Errichtung sind im Moment 3,75 Millionen Euro vorgesehen. Zusätzlich werden 50 000 Euro Miete im Jahr und mindestens 20 neue Stellen veranschlagt. Bei einem durchschnittlichen Bruttoeinkommen der Polizei von 31 146 Euro kosten Miete und Personal dann etwa 670 000 Euro jährlich. Mit diesen Ausgaben könnte Sicherheit am »Kotti« auf Wegen hergestellt werden, die Anwohner*innen und Gewerbetreibende schon lange fordern. So könnte der grün regierte Bezirk die Armut deutlich abfedern, in der einige Menschen am Ort leben, und weiteren sozialen Härten, Störungen und Bedrohungen begegnen, beispielsweise durch Notunterkünfte, öffentliche Toiletten, diskriminierungsfreie Gesundheitsversorgung, Suchthilfeprogramme und der finanziellen Unterstützung der lokalen Communitys. Stattdessen soll das Geld in eine 200 Quadratmeter große Polizeiwache fließen, die mitten in dem Häuserblock mit Sicht über das gesamte Kottbusser Tor errichtet werden soll.
Weiterhin betont Çelik, er hätte kein grundsätzliches Problem mit der Polizei, fände sie nur für die Konflikte am Ort häufig nicht die beste Lösung. Er ist stolz, seine Konflikte bisher immer ohne polizeilichen Einsatz gelöst zu haben: »Ich habe in meinem Leben noch nicht die Polizei gerufen! Ich rede mit den Leuten!« Ein anderer Anwohner, Serdar, äußert hingegen ein generelles Misstrauen. Er hält die Polizei für rassistisch und schlussfolgert deshalb: »Der Polizei vertraue ich nie!« Für Jennifer, die sich fast täglich am »Kotti« aufhält und auch ihr soziales Umfeld dort hat, kommt es ebenfalls grundsätzlich nicht infrage, sich an die Polizei zu wenden: »Nee, mit der Polizei sich zusammentun, das ist wie Feuer und Wasser. Das geht gar nicht.« Für Jennifer bedeutet es potenziell Stress, wenn die Polizei anwesend ist; sie und ihre Freund*innen »wollen, dass es ruhig bleibt, dass sich keiner streitet und keiner irgendwie Krach macht oder irgendwie auffällig wird«. Diese für sie unangenehmen Verhaltensweisen sehen sie offenbar auch im Auftreten der Polizei verwirklicht.
Betont werden muss: Die hier wiedergegebenen Ansichten sind nicht repräsentativ, sondern es sind Einblicke in Wahrnehmungen und Deutungen einzelner Personen. Aber es sind eben allesamt Ansichten, die bei der Planung der Wache und in den Äußerungen über die Anwohner*innen von Spranger & Co nicht ausreichend in Betracht gezogen werden. So komplex und divers die Lebensrealitäten und Sicherheitsbedürfnisse am Ort sind, so komplex müssten eigentlich auch sicherheitspolitische Strategien sein, um am Kottbusser Tor sinnvoll zu sein. Denn dass diese eigentlich notwendig sind, darin sind sich letztlich doch auch viele Anwohner*innen einig. Im öffentlichen Raum Kottbusser Tor zeigen sich verschiedenste soziale Problemlagen mit besonderer Härte: Gesellschaftliche Herrschafts- und Ausschlussformen des historisch vom Kolonialismus geprägten Kapitalismus resultieren in Armut, steigenden Mieten, beengten Wohnräumen, stressigem Arbeitsalltag, Illegalisierung, institutionellen Diskriminierungen und weiteren allgegenwärtigen Gewaltverhältnissen.
Mitten in Berlin im am dichtesten besiedelten Wohngebiet gelegen, ist das Kottbusser Tor zudem noch ein Party- und Tourismus-Hotspot; hier prallen Lebensrealitäten in all ihren Facetten aufeinander. Die prekären Lebenssituationen, die am Kottbusser Tor sichtbar werden, wirken für viele Menschen erschreckend, andere Besucher*innen wiederum kommen extra an den »gefährlichen Ort«, um mal so richtig die »Sau raus zu lassen«. Diese diversen Konflikte und sozialen Härten machen Angst, und den Ruf nach der Polizei haben viele in solchen Momenten als Selbstverständlichkeit erlernt. Andere Menschen wiederum sind mit dem Wissen aufgewachsen, dass die Polizei ihnen im Zweifel nicht hilft, sondern selbst zur Bedrohung wird.
Rassistische Polizeikontrollen
Insbesondere die »verdachtsunabhängigen Kontrollen«, die am Kottbusser Tor zur täglichen Polizeiarbeit gehören, beschreiben viele als Belastung und Bedrohung. Diese Kontrollen sind hier deshalb möglich, weil der »Kotti« zu einem von etwa elf sogenannten »kriminalitätsbelasteten Orten« in Berlin erklärt wurde. An diesen Orten, kurz »KBO« genannt, kann die Polizei gemäß der Berliner polizeirechtlichen Ermächtigungsgrundlage § 21 II 1 ASOG (Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz) Personen ohne Angabe eines konkreten Verdachts kontrollieren. Die Kontrollen können laut polizeilichen Vorgaben die Feststellung der Identität ebenso umfassen wie die Durchsuchung der Kleidung, mitgeführter Taschen und des Körpers »inklusive aller natürlichen Körperöffnungen«.
Als alltägliche polizeiliche Praxis auf dieser Grundlage beschrieben viele meiner Interviewpartner*innen das Phänomen der rassistisch diskriminierenden Personenkontrollen, das sogenannte Racial Profiling – was nicht nur bei den im konkreten Fall kontrollierten Personen die Beliebtheit der Polizei einschränkt. Amir etwa wurde am Kottbusser Tor schon häufig kontrolliert und beschreibt die Angst vor weiteren Kontrollen als dauerhafte Bedrohung: »Jeden Tag, rund um die Uhr, ist die Polizei da. Die interessiert es nicht, ob du Drogen verkaufst oder nicht … Die sehen dich, einen afrikanischen oder Schwarzen oder arabischen Menschen, … dann kontrollieren sie.« Dass sogenannte »verdachtsunabhängige Personenkontrollen« häufig an diskriminierenden Kategorien wie Race, Class und Gender orientiert sind, ist ein Phänomen, von dem Betroffene immer wieder berichten und dessen Existenz bereits verschiedene Studien nachgewiesen haben. Antirassistische Organisationen problematisieren diese Formen der Diskriminierung in Hinblick auf das Kottbusser Tor regelmäßig, so beispielsweise die Kampagne für Opfer rassistische Polizeigewalt (KOP), die Beratungsstelle ReachOut für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Berlin sowie die Initiative »Ban! Racial Profiling – Gefährliche Orte abschaffen!«.
Anwohner Amir beschreibt seine Erfahrungen mit der Praxis des Racial Profiling: »Ich habe meine Papiere immer griffbereit. Ich bin sehr wütend … sie kontrollieren nur uns Schwarze.« Begleitet wird die ständige ortstypische Gefahr, eine Kontrolle zu erleben, von der kontrolltypischen Gefahr, physische Gewalt zu erleben: Da die Personenkontrollen, die regelmäßig am Kottbusser Tor durchgeführt werden, von den Betroffenen als willkürlich und rassistisch wahrgenommen werden, gestalten sich die Situationen entsprechend angespannt. Diese Anspannung bricht sich gelegentlich Bahn in einer gewalttätigen Situation – durch Widerstand vonseiten der kontrollierten Person, aber auch durch Gewaltanwendung der Polizei. Der Interviewte Devrim beschreibt die polizeiliche Gewalt als eine mögliche Reaktion auf Widerrede gegen die durchgeführten Kontrollen: Den Personen, die sich im Falle einer Kontrolle beschweren, würde dann »erst mal Mundverbot erteilt, wenn sie sich nicht daran halten, dann werden sie mit Gewalt … vom Platz weggenommen«.
Eben diese Dynamik des erhöhten Eskalationspotenzials von sogenannten verdachtsunabhängigen Personenkontrollen ist mittlerweile wissenschaftlich bewiesen, durch eine von dem Kriminologen Tobias Singelnstein und seinem Team durchgeführte Studie zu »Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen«. Der 2020 veröffentlichte zweite Zwischenbericht dieser Studie beschreibt den von meinen Interviewpartner*innen beschriebenen Kausalverlauf als generelles Phänomen: Betroffene der polizeilichen Kontrollen stellen die Maßnahme häufig infrage, da sie diese als nicht gerechtfertigt oder als rassistisch empfinden. Dieses Hinterfragen kann zu besonders angespannten Situationen führen, die wiederum die Gefahr bergen, in übermäßigen polizeilichen Gewaltanwendungen zu eskalieren.
Unabhängig von den rassistischen Kontrollen berichten auch Angehörige der offenen Straßen-Drogenszene am »Kotti« von Gewalterfahrungen. Und auch hier belegen Studien, dass Kontakte von Polizist*innen mit Menschen, die unter Einfluss von Alkohol oder Drogen stehen, erheblich öfter in Gewalt münden als mit nüchternen Personen. Entsprechendes beschreibt Jennifer im Interview auch für das Kottbusser Tor. Menschen mit sichtbaren psychischen Schwierigkeiten und Frauen seien besonders stark gefährdet. Während sie die Polizei kommentiert, macht sie eine Kopfbewegung in Richtung einer versteckten Ecke des »Kotti« – als hätte sie dort schon Gewalt beobachtet: »Deine Freunde und Helfer … die sind auch gnadenlos. Also, die haben hier schon Leute zusammengeprügelt.«
Polizei – da für dich?
Für diejenigen, die sich von der Polizei bedroht fühlen, ist polizeiliche Präsenz am Ort folglich nicht positiv. Amir schlussfolgert: »Es ist nicht schön, weil jeden Tag rund um die Uhr die Polizei da ist.« Wer von der Polizei beschützt werden soll und wer als potenzielle Gefahr gilt, definieren gesellschaftliche Machtverhältnisse. So entstehen Communitys, deren Angehörige darauf angewiesen sind, füreinander da zu sein – in den Worten der Soziologin und Aktivistin Vanessa E. Thompson: »Gerade, wenn Polizieren nicht nur keine Sicherheit für mehrfach marginalisierte Subjekte bedeutet, sondern auf ihrem Ausschluss aus dem liberalen Verständnis von Sicherheit beruht, braucht es Konzepte des aufeinander Aufpassens, des Verantwortung Übernehmens und des Sorge füreinander Tragens.«
Viele Menschen in Deutschland haben so gut wie nie ungewollten Kontakt mit der Polizei. Für sie ist die Polizei deshalb in erster Linie etwas Positives, nämlich eine Stelle, die sie anrufen können, wenn sie in eine Bedrohungslage geraten. Dass die Ausübung von Zwang und die Anwendung von körperlicher Gewalt per Definition und in der alltäglichen Praxis zum Polizeiberuf gehört, wissen viele nur aus Kriminalserien im Fernsehen. Viele der Menschen am Kottbusser Tor wissen es besser: Sie sehen die Polizei täglich und haben somit ein deutlich differenzierteres Wissen über Polizeigewalt und die Wirkung von polizeilicher Präsenz als Menschen, die nicht an »kriminalitätsbelasteten Orten« leben.
Die Haltung einer Person zur Polizei hängt in erster Linie von den Erfahrungen ab, die sie mit dieser gemacht hat. Die Polizei bewegt sich nicht nur – wie jede andere Institution – innerhalb der hiesigen Macht- und Herrschaftsverhältnisse, sondern spielt eine zentrale Rolle darin, diese Verhältnisse (mit Gewalt) durchzusetzen. Diese objektive Funktion beeinflusst eben die Weise, wie Polizist*innen auf Angehörige der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen losgehen beziehungsweise umgekehrt die Erfahrungen, die Menschen mit der Polizei machen. Das heißt, im Schnitt machen ärmere Menschen schlechtere Erfahrungen mit der Polizei als reichere; rassialisierte Menschen schlechtere Erfahrungen als weiße; widerständige Menschen schlechtere Erfahrungen als angepasste, und so weiter.
Die Frage, wessen vermeintliche Unsicherheiten als natürlich und legitim den öffentlichen Diskurs beherrschen und wessen Unsicherheiten hingegen zuerst durch die Verhältnisse hergestellt und dann ignoriert werden, wird von gesellschaftlichen Ideologien und Herrschaftsstrukturen bestimmt. In diesen historisch gewachsenen rassifizierten und kapitalistischen Logiken bleiben klassischerweise die Perspektiven von Menschen marginalisiert, die strukturell in verwundbaren Positionen sind – und dann auch noch selbst als Bedrohung inszeniert werden. Es sind zugleich diejenigen, die über fundiertes Wissen über die Realität der Polizeiarbeit verfügen, da sie die Polizei täglich erleben.
Mitbestimmung – Fehlanzeige!
Anwohner*inneninitiativen und lokale Gremien des Kottbusser Tors wandten sich kürzlich in einem offenen Brief an den Berliner Senat und an die Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses. Darin machten sie öffentlich, dass sie »zutiefst irritiert« darüber seien, bei der Entscheidungsfindung über den Standort der geplanten Polizeiwache übergangen zu werden. Bekanntermaßen gäbe es, so heißt es in dem Brief weiter, »unterschiedliche Gremien und Kreise, die zu den komplexen Problemlagen am Kottbusser Tor seit Jahren arbeiten«. Dennoch würden diese Initiativen nicht in den Prozess eingebunden werden. Trotz der verschiedensten Perspektiven auf die Polizei und ihre Präsenz am »Kotti« wurde in letzter Zeit häufig der grobe gemeinsame Nenner formuliert, dass zumindest an der vorgesehenen Stelle, nämlich mitten im Wohnblock NKZ, von den Anwohner*innen keine Wache gewünscht ist.
Aber die Berliner Innensenatorin hält trotz der Ablehnung der Menschen am Kottbusser Tor an den Planungen für eine Wache im NKZ fest. Die Einrichtung einer Polizeiwache dort ist eine polizeiliche und staatliche Machtdemonstration und eine diskriminierende Zuschreibung der am Kottbusser Tor lebenden Menschen als potenziell gefährlich. Im ersten Stock des Wohnblocks, wie auf einer Empore thronend, ist die geplante Wache einmal mehr als Signal zu verstehen, dass es nicht um die Sicherheit der Menschen vor Ort geht, sondern vielmehr um deren Kontrolle.
Es ist nicht nur die Polizei, sondern es sind auch die Zeitungen, der Arbeitsmarkt, das Schulsystem, die Hausbesitzer*innen und verschiedene andere Institutionen, die durch ihre rassistischen und kapitalistischen Logiken Orte entstehen lassen, die als unsicher gelten. Die Menschen, die am Kottbusser Tor leben, wissen, was sie sicher macht, sie haben das fundierteste Wissen über die Zustände, die Probleme und Möglichkeiten des Ortes. Die Wünsche und das Wissen der Gemeinschaft des Kottbusser Tor und insbesondere die Perspektiven derjenigen, denen die Polizei und die geplante Wache keine Sicherheit geben, müssen endlich gehört werden – und zwar nicht nur in Hinblick auf die Planung einer Polizeiwache!
Zum aktuellen Stand: In der zweiten Juni-Woche 2022 unterzeichnete die Berliner Immobilienmanagement GmbH (BMI) den Mietvertrag für die Räume im »NKZ«. Der Kreuzberger Bezirksausschuss aus Grünen und Linkspartei fordert nun einen Baustopp.
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