- Politik
- Aussöhnung in Kolumbien
Die entscheidenden Fragen für den Frieden
In Kolumbien beteiligen sich auch ehemalige Paramilitärs am Aussöhnungsprozess
Das moderne Universitätsgebäude liegt im Norden Medellíns. Glas, roter Klinker, Stahl und Beton prägen den Bau. Vor dem wartet Oscar Montealegre, ein quirliger, kräftiger, mittelgroßer Mann. Er unterrichtet an der katholischen Universität Santo Tomás Philosophie mit dem Schwerpunkt Menschenrechte, und heute steht Hannah Arendt bei ihm und seinem Kollegen Franklin Gómez auf dem Plan. Mehr als zwanzig Studierende sitzen in dem hellen Unterrichtsraum im zweiten Stock. Das Seminar hat bereits begonnen, und eine Gruppe von Studierenden gibt wieder, was sie einem der Texte der politischen Theoretikerin entnommen haben.
Im November 2016 unterzeichneten der kolumbianische Staat in Person von Präsident Juan Manuel Santos und die Farc-Guerilla nach mehr als 50 Jahren Krieg ein historisches Friedensabkommen. Das Abkommen gilt international als beispielhaft. Darin ist auch die Gründung einer Wahrheitskommission als Bestandteil des »Integralen Systems für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Garantien der Nichtwiederholung« festgehalten.
Kommissionen mit dem Auftrag, die historische Wahrheit zu dokumentieren, die Opfer und deren Rechte anzuerkennen sowie die Klärung der Verantwortlichkeiten zu übernehmen, hat es schon in anderen Ländern wie Südafrika oder Peru gegeben. In Kolumbien ging man aber noch einen Schritt weiter: Die Wahrheitskommission befragte auch Kolumbianer*innen im Ausland, um ein möglichst detailliertes Bild von dem oftmals brutal geführten Krieg nachzeichnen zu können. Der Bericht wurde am 28. Juni vorgestellt und wird in den nächsten Wochen in Kolumbien landesweit und in Deutschland in zwei Städten (Berlin, Frankfurt) vorgestellt.
Bei der Vermittlung setzten die zwölf Mitglieder der Kommission auch auf die Kunst als Katalysator: in Theaterstücken, Performance und in vielen anderen Formen. Auch mit diesen Ausdrucksmitteln solle der Bericht in die Gesellschaft getragen werden, hieß es. khe
»Direkte Partizipation« ist ein Stichwort, das fällt. Und das ist ein Grund, weshalb die beiden Dozenten den Text der vor den Nazis über Paris in die USA geflohenen Philosophin ausgewählt haben. »Wir wollen sensibilisieren, die junge Generation zur Auseinandersetzung animieren – mit ihrem Land, der Realität von Bürgerkrieg, historischer Wahrheit und Erinnerung. Da lässt sich viel lernen von Hannah Arendt«, erklärt der 41-jährige Dozent später im Büro von Aulas de Paz. Die Organisation ist auf dem Campus der katholischen Privatuniversität untergekommen, angegliedert an die juristische Fakultät mit der Abteilung für Menschenrechte. Das ist keine Selbstverständlichkeit.
»Wir, das sind derzeit 15 Festangestellte, alle ehemaligen Guerilleros oder Paramilitärs. Auch ein paar Militärs gehören zu unserem Netzwerk, das sich für eine Kultur des Friedens in Kolumbien engagiert«, erklärt Montealegre. Auch er ist ein Ehemaliger. Bis 2006 gehörte er zu den führenden Comandantes des größten paramilitärischen Verbandes, des Bloque Central Bolívar. Unter dem Decknamen »Piraña« war er für etliche Verbrechen rund um die Erdölstadt Barrancabermeja verantwortlich, heute engagiert er sich für den Frieden und für die Suche nach der historischen Wahrheit.
Wendepunkt in seinem Leben waren die Gespräche mit Opfern. Denen stellte sich Montealegre. Nach der Demobilisierung der paramilitärischen Verbände zwischen 2002 und 2005 waren deren Führungsebenen im »Gesetz über Gerechtigkeit und Frieden« niedrige Haftstrafen von maximal acht Jahren zugesichert worden, wenn sie mit der Justiz kooperieren. Montealegre tat das, machte detaillierte Aussagen, trug zur Wahrheitsfindung bei, stellte sich auch den Opfern, nahm an Exhumierungen teil. Das hat den heute 41-Jährigen geprägt. »Nahe Medellín, im Hochsicherheitsgefängnis von Itaguí, ist die Idee für unsere Organisation entstanden. Alles begann mit einfachen Fragen: Wer hat Informationen über dieses oder jenes Massaker?«, erinnert sich Montealegre. In Rodrigo Pérez Alzate fand er einen Mitstreiter, wie er ein Paramilitär. Beide waren ganz oben in der Führungsstruktur, beide waren verantwortlich für unzählige Gewalttaten und beide waren bereit, sich und den Konflikt zu reflektieren.
Sie stellten sich Fragen nach der eigenen Rolle in dem Krieg. Dem Grund, weshalb sie sich den Paramilitärs anschlossen – andere ihrer bald gefundenen Mitstreiter waren bei der Farc, der ELN, der EPL und anderen Guerillaorganisationen. Sie hinterfragten den Kreislauf der Gewalt und blickten auf die Akteure dahinter – die Finanziers. »Wir begannen darüber nachzudenken, was wir beitragen können zur Aufarbeitung der historischen Ereignisse, was zur Prävention und was zur Frage, warum dieser Krieg weiter am Leben gehalten wird?«
Das war der Auftakt. Ein weiterer und entscheidender Schritt erfolgte aber, als die Idee, mit einem Psychologen und einem Soziologen zu sprechen, die Runde in der Haftanstalt machte. »Die Frage, warum jeder Einzelne zur Waffe gegriffen hatte, war es, die uns demobilisierte Paramilitärs wie inhaftierte Guerilleros fesselte«, erinnert sich Montealegre.
Noch spannender war das Ergebnis einer Studie, die den interviewten ehemaligen Kämpfern fehlende Bildung attestierte. Das öffnete nicht nur Montealegre die Augen, dessen Eltern von der Guerilla erschossen wurden, weshalb er sich der Gegenseite anschloss. »Wir alle sind in den Konflikt hineingeboren worden. Eine Kultur des Friedens haben wir nie erlebt. Die braucht dieses Land aber – und alles beginnt mit Bildung«, meint Montealegre. Er hat anders als viele andere den Absprung gefunden, versucht heute, Studierende für die jüngere Geschichte des Landes zu sensibilisieren.
Dafür hat sich Montealegre qualifiziert. Erst hat er Psychologie studiert, nun folgt noch ein Jura-Studium mit Schwerpunkt Menschenrechte. Er hat seine zweite Chance ergriffen und die Universität Santo Tomás, die mit dem Slogan »Erstes universitäres Kloster Kolumbiens« für sich wirbt, war dafür das Sprungbrett. Der Kontakt kam über die Gefängnisleitung zustande. An die war die Universität herangetreten, um ihre Studierenden mit einer anderen Realität zu konfrontieren: der des Krieges und des Alltags in einer Haftanstalt. »Den Priestern ging es um eine Art Schocktherapie. Sie wollten, dass ihre Schüler begreifen, warum Krieg keine Option ist«, erinnert sich Montealegre.
Nach den ersten Gefängnisbesuchen folgten Diskussionsveranstaltungen in der Aula der Universität. Schließlich gab es das Angebot, der Stiftung Aulas de Paz auf dem Campus eigene Büroräume zur Verfügung zu stellen.
Für die Gruppe der ehemaligen Kämpfer um Montealegre und Pérez war das ein Glücksfall. So wurde nicht nur die Initiative sichtbar, sondern auch der Übergang in ein ziviles Leben nach acht Jahren Haft möglich. »Die bietet sich nur wenigen Ex-Kämpfenden, die meist sich selbst überlassen werden«, kritisiert Montealegre und verweist auf paramilitärische Banden, die landesweit aktiv sind, aber auch auf dissidente Farc-Guerilleros, die in einigen Regionen wieder zu den Waffen gegriffen haben. »Sie haben nichts anderes gelernt«, schiebt er als Erklärung hinterher.
Montealegre aber hat dazugelernt, an der Universität geht er allerdings recht vorsichtig mit seiner Biographie um. »Kaum ein Studierender weiß davon«, sagt er. Gründe dafür sind die extreme Polarisierung in der kolumbianischen Gesellschaft. Längst ist nämlich die Suche nach der historischen Wahrheit zum Politikum geworden. Und das im Bau befindliche staatliche »Museum der historischen Erinnerung« könnte in einigen Monaten ohne ausgewogene Ausstellung dastehen, weil die Planenden sich mit den Opfern überworfen haben. »Die Logik des Krieges haben wir in den letzten vier Jahren nicht hinter uns gelassen«, kritisiert Montealegre.
Regelmäßig ist er für die Stiftung unterwegs, koordiniert mit seinem Team, das auch in Barrancabermeja und in Bucaramanga Dependenzen unterhält, die Aktivitäten zur Aufarbeitung der jüngeren kolumbianischen Geschichte an Schulen und Universitäten. Initiativen wie Aulas de Paz werden auch von der kolumbianischen Wahrheitskommission unterstützt. Mit Lucía González, einem Mitglied des Gremiums, ist Montealegre im stetigen Austausch. Mit ihr war er im Februar 2019 auch in Cacarica. »Dort habe ich mich auf das Podium gesetzt und mit Opfern von Vertreibung und paramilitärischer Gräueltaten diskutiert«, erinnert er sich. Das Dorf liegt ganz im Norden Kolumbiens, nur ein paar Dutzend Kilometer entfernt von der Grenze zu Panama und hat strategische Bedeutung. Drogen- und Waffenschmuggel-Routen verlaufen durch die Dschungelregion, wo 1997 die »Operación Genesís« stattfand. In der gemeinsamen Offensive von Militärs und Paramilitärs wurden unter dem Vorwand der Bekämpfung der Farc-Guerilla mindestens 3500 Zivilisten gewaltsam vertrieben, etliche ermordet.
Zwei Jahre nach ihrer Vertreibung kamen die Bewohner*innen in Begleitung der Interkirchlichen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden zurück. Sie haben ihre eigene Geschichte rekonstruiert und engagieren sich für die Versöhnung in der Region. Slogans wie »Wahrheit und Gerechtigkeit« stehen auf den einfachen Holzhütten der Gemeinde, die nur auf dem Wasserweg zu erreichen ist; sie zeugen von dem Wunsch nach Frieden genauso wie die T-Shirts der Dorfjugend, auf denen »Für die Wahrheit« steht.
Dafür luden sie 2019 Militärs, Paramilitärs und ehemalige Farc-Guerilleros zur Diskussion ein. Darunter auch Oscar Montealegre, der nie zuvor in der nach wie vor umkämpften Region war. »Ich wollte mich damals nicht als ehemaliger Paramilitär aufs Podium setzen, fürchtete um meine Sicherheit und die meiner Familie«, erinnert er sich. Auf Bitten von Lucía González tat er es aber doch und ist nach wie vor beeindruckt, wie engagiert die dortige Gemeinde sich für Versöhnung einsetzt. »Die Opfer sind viel offener als der kolumbianische Staat. Noch heute, drei Jahre später, werde ich von ihnen zum alljährlichen Festival der Erinnerung eingeladen«, erzählt Montealegre und zieht beeindruckt die Augenbrauen hoch.
Das wünscht er sich von allen Akteuren, und dafür engagiert er sich mit Aulas de Paz und in den Seminaren. Das trägt Früchte, wie die steigende Zahl der Proteste von Studierenden in den letzten Jahren zeigt. Darunter auch einige von der Universität Santo Tomás.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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