Zurückhaltung war gestern

Die Nato rüstet auf. Russlands Überfall auf die Ukraine bietet ihr die günstigste Gelegenheit dazu

  • René Heilig
  • Lesedauer: 5 Min.
Teilnehmer*innen des Nato-Gipfels in Madrid
Teilnehmer*innen des Nato-Gipfels in Madrid

Langsam wird es Zeit, im Brüsseler Nato-Hauptquartier eine kleine »Russenecke« einzurichten. Neben einem Porträt des russischen Präsidenten könnte da zu lesen sein: »Gewidmet Wladimir Putin, dem besten Feind und Förderer der Allianz.« Mit dem von ihm befohlenen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat er geschafft, was die Nato selbst nicht hinbekommen hätte. Das Bündnis ist stärker denn je, geeinter denn je und als Wirtschaftsmotor für die Rüstungsindustrien vieler Länder unverzichtbar.

Nachdem die EU in Brüssel und die G7-Staaten im bayerischen Elmau ihre Geschlossenheit demonstrierten, werden nun auch auf dem Nato-Gipfel in Madrid die Weichen für viele Jahrzehnte Konfrontation gestellt. Was dort von den Staats- und Regierungschefs der 30 Mitgliedsstaaten beschlossen wird, führe »zu einer grundlegenden Veränderung der Art und Weise, wie wir die kollektive Verteidigung in der Nato organisieren«, versprach Generalsekretär Jens Stoltenberg zu Wochenbeginn. Man wird in Madrid ein neues strategisches Konzept beschließen. Das aus dem Jahr 2010 ist lange Makulatur. Damals hatte man noch auf eine »echte strategische Partnerschaft« mit Russland gesetzt und den heraufziehenden Konflikt zwischen dem Westen und China mit keinem Wort erwähnt. Die USA dringen nun darauf, dass man dem für Washington unbequemen Machtstreben Pekings stärkere Beachtung schenkt.

Vor allem aber bietet der Krieg in der Ukraine der Nato eine Chance zum Neustart. Dabei war sie 2019 vom damaligen US-Präsidenten Donald Trump für »obsolet« und von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron für »hirntot« erklärt worden. Die Niederlage in Afghanistan nach zwei Jahrzehnten Krieg fuhr der 1949 im Rahmen der US-Eindämmungspolitik gegen die Sowjetunion gegründeten Militärallianz gehörig in die Knochen. Doch bevor man mit der Ursachenanalyse beginnen konnte, zapfte man aus der Ukraine-Krise und dem sich anschließenden Überfall Russlands neues Lebenselixier. Alles, was Moskau verhindern wollte, trat nun ein. Die Wehretats der Nato-Mitgliedsstaaten schnellten in die Höhe, eine Modernisierungswelle rollt durch die westlichen Streitkräfte, die Führungsrolle der USA ist wieder unumstritten, das Abschreckungspotenzial der Atomwaffen willkommen, wo vorher deren Abschaffung zumindest diskutiert wurde. Zudem gibt es faktisch keinerlei vertraglich vereinbarte Rüstungsbegrenzung und keine vertrauensbildenden Maßnahmen mehr, weder für den europäischen Kontinent noch global. Stoltenberg erklärte zum Gipfelauftakt am Mittwoch triumphierend: »Präsident Putin ist es nicht gelungen, die Tür der Nato zu schießen. Er bekommt das Gegenteil von dem, was er wollte.«

Es zählt Stärke, nicht Vernunft. Die Nato gilt inzwischen auch vielen Kritikern und jenen, die sich bislang aus guten Gründen von ihr ferngehalten hatten, als alleiniger Garant des Friedens. Die bislang bündnisfreien Länder Finnland und Schweden stellten Aufnahmeanträge. Das an der Südflanke wichtige Mitglied Türkei stimmte der Aufnahme der Nordeuropäer am Dienstagabend zu, nachdem es Zugeständnisse von ihnen im Umgang mit kurdischen Geflüchteten erwirkt hatte. Ankara erweitert so seine Handlungsfreiheit gegen die Opposition im eigenen Lande wie in Syrien, dessen politische Ordnung nur durch russische Truppen gesichert ist.

Dass die Allianz ihre Abschreckungsstrategie gegenüber Russland wie auch China überarbeiten will, war bekannt. Dennoch überrascht das bereits vor dem Gipfel bekanntgegebene Ausmaß der geplanten Aufrüstung. Von bislang 40 000 auf mehr als 300 000 Soldatinnen und Soldaten sollen die schnellen Eingreiftruppen des Bündnisses aufgestockt werden. Sie sollen in Friedenszeiten zumeist unter nationalem Kommando stehen. Im Ernstfall könnten sie vom Nato-Oberbefehlshaber in Europa angefordert werden. Vorgegeben werden neue Zeiten für deren Einsatzbereitschaft. Einige Einheiten sollen innerhalb von höchstens zehn Tagen verlegebereit sein, andere in 30 oder 50 Tagen. Details für den Ernstfall sollen in neuen regionalen Verteidigungsplänen festgelegt werden, die nächstes Jahr fertig sein sollen.

Insbesondere wird es eine Aufstockung der Truppen an der Ostflanke der Nato geben. Laut Stoltenberg sollen deswegen auch die existierenden multinationalen Nato-Gefechtsverbände in den baltischen Staaten, in Polen und Rumänien auf Brigade-Niveau ausgebaut werden. Eine Brigade besteht in der Regel aus etwa 3000 bis 5000 Soldaten. Derzeit umfasst beispielsweise der von der Bundeswehr geführte Gefechtsverband in Litauen 1600 ausländische Soldaten. Deutschland ist derzeit mit rund 1000 Bundeswehrangehörigen präsent, hat aber bereits angekündigt, dass es die Kampftruppenbrigade in dem an die russische Exklave Kaliningrad und Belarus grenzenden Land führen wird. Auch wenn nicht alle zusätzlichen deutschen Truppen unmittelbar in Litauen stationiert, sondern dorthin temporär zu Übungen verlegt werden, ist das ein gewaltiger Zuwachs. Zumal man – wie die von anderen Nato-Nationen in baltischen Staaten, in Polen und Rumänien stationierten Battlegroups auch – Materialreserven und Vorräte an Treibstoff, Waffen und Munition vor Ort anlegen wird.

Doch damit sind die rasch verfügbaren deutschen Kräfte nicht erschöpft. Derzeit stellt die Bundeswehr für die Nato Response Force rund 14 200 Soldaten einschließlich nationaler Unterstützungskräfte. Das hat damit zu tun, dass die Deutschen den Kern der »Very High Readiness Joint Task Force« 2022 in Bereitschaft und 2023 abrufbereit halten.

Der deutsche Kanzler Olaf Scholz betont stets, man wolle sich nicht in den Ukrainekrieg hineinziehen lassen, und der Nato-Generalsekretär beteuert, der Zweck einer glaubwürdigen Abschreckung bestehe nicht darin, einen Konflikt zu provozieren, sondern ihn zu verhindern. Man wolle Russland oder andere potenziellen Gegner daran hindern, ein Nato-Land anzugreifen.

Noch ist das in Madrid diskutierte New Force Model vor allem Zielvorstellung. Klar ist jedoch, dass Deutschland in der Nato eine wachsende Bedeutung haben wird. Nachdem der Bundestag das 100-Milliarden-Euro-Aufrüstungsprogramm und eine Steigerung des Wehretats beschloss, hat der Umbau der Bundeswehr begonnen. Die Luftwaffe erhält neue Atombomber, Maschinen zur elektronischen Kriegsführung sowie schwere Transporthubschrauber, die Marine zusätzliche U-Boote, Korvetten und Fregatten, auch die Cybertruppen werden nachgerüstet. Deutliche Umbrüche wird es im Heer geben. Bei gleichbleibender Personalstärke von 60 000 Soldatinnen und Soldaten soll bis 2025 eine Division so aufgefüllt werden, dass sie ohne Vorbereitung sofort im Nato-Verbund einsatzfähig ist. Zwei weitere werden folgen. Die Zahl der Artilleriebataillone wird verdoppelt, zusätzliche Fernmelde-, Flugabwehr- und Logistikkräfte sollen bereitgestellt werden. Dabei ist auch der Einsatz von Reservisten geplant.

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