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Augen zu und durch

Mit «Einstein on the Beach» werfen Susanne Kennedy und Markus Selg einen Blick in das posthumane Zeitalter und probieren sich an der Wiederverzauberung der Welt

Hippietum trifft auf Ethnokitsch und Windows 98: die begehbare Raumbühne für »Einstein on the Beach«
Hippietum trifft auf Ethnokitsch und Windows 98: die begehbare Raumbühne für »Einstein on the Beach«

Eine kleine Musiktheaterrevolution stellte die Uraufführung von «Einstein on the Beach» dar. Das war 1976 beim traditionsreichen Festival d’Avignon. Robert Wilson und Philip Glass sind die Namen der beiden Urheber. Robert Wilson war damals ein junger Theatermacher, der Ernst machte mit Bertolt Brechts Forderung nach der «Trennung der Elemente: Text und Gesang, das Bühnenbild und die Bewegungsabläufe, die Kostüme und vor allem das Licht, sie alle spielten in seinen Arbeiten ihre eigenen Rollen, ohne zur dumpfen Illustration einer inhaltlichen Linie zu verkommen. Philip Glass hieß der aufstrebende Komponist, der seine erste Oper schrieb und so einen Klassiker des musikalischen Minimalismus schuf. Sie war die Verabschiedung des handlungsbasierten Musiktheaters und widmete sich als Auftakt einer Porträttrilogie Albert Einstein. Nicht mit banalem, pseudokünstlerischem Biografismus wird das Publikum behelligt, sondern herausgefordert mit einer Übersetzung der grundlegenden Erneuerung der Physik in die Sprache der Musik.

Das Erfolgsduo des Theaterbetriebs, Susanne Kennedy und Markus Selg, hat sich an einer Neuinszenierung probiert, die zu Beginn des vergangenen Monats am Theater Basel ihre Premiere feierte, bei den Wiener Festwochen gastierte und dieser Tage am Haus der Berliner Festspiele zu sehen ist. Bevor man aber in den Genuss dieses dreieinhalbstündigen Spektakels kommt, wird man zu einem »Appetizier«, einem kleinen Einblick in die Bildwelten à la Kennedy/Selg, geladen. »I am (VR)« heißt diese 35-minütige Veranstaltung für je sieben Personen, die Theater zu nennen es keinen Anlass gibt. VR, das steht für virtuelle Realität, beschreibt Mittel und Thema der Installation gleichermaßen. Und darum, wer das Ich ist und was es ist, geht es, wie der Titel nahelegt, auf eigenartig verschwurbelte Art und Weise auch.

Zunächst wird man gemeinsam mit sechs Leidensgenossen, jeder in seiner Ecke, aufgefordert, VR-Brille und Kopfhörer aufzusetzen. Die akustische und visuelle Zudröhnung trägt Sorge dafür, dass man in eine Parallelwelt abtaucht. Mittels gezieltem Blick kann man den eigenen Weg scheinbar mitbestimmen. Natürlich ist auch die Entscheidungsgewalt des Zuschauers nur inszeniert, ein Schwindel, dem man sehr schnell auf die Schliche kommt. Inhaltlich geht es um eine pseudoindividuelle Selbsterfahrungsreise, Orakelbegegnung inklusive. Fragen und Antworten, man hätte es sich denken können, sind aber im Zuschauer selbst zu suchen. So viel klüger ist man nach dem Besuch der stillen Fahrt mit Schwindelgefahr also nicht.

Auf mehr Tiefgang darf man sich bei der vieraktigen Oper »Einstein on the Beach« einstellen. Für das Publikum wurde der gesamte Bühnenraum geöffnet. Einige Zuschauer versammeln sich wie üblich auf den Sitzen mit frontalem Blick auf das Portal. Aber auch auf der Seiten- und Hinterbühne sind Stühle und andere Sitzmöglichkeiten aufgebaut. Und wer keinen Platz findet, nimmt mit dem Boden vorlieb. Nach einiger Zeit trauen sich die Zuschauer auch, sich auf der Drehbühne niederzulassen, die fast den ganzen Abend in Bewegung ist. Die Lust an den unterschiedlichen Perspektiven belebt die Bühne – immer ist irgendjemand unterwegs, der auf einen neuen Einblick hofft. Auch das Geschehen im Orchestergraben kann man, so man will, genau verfolgen.

Was das VR-Spektakel zuvor versucht hat und was schon wegen der Vereinzelung der Zuschauer nicht glücken konnte, soll hier erfolgreicher in einem zweiten Anlauf probiert werden: Das Publikum soll regelrecht eintauchen in eine unbekannte Welt. Kennedy/Selg haben sich bereits einen Namen gemacht als Bilderweltenbauer – und sich auch das eine oder andere Mal, aus gutem Grund, den Vorwurf des inhaltsschwachen formalistischen Gehabes eingeheimst. Sie kreieren auf der Bühne ihr eigenes ästhetisches Universum, das immer auch Selbstzweck ist.

Wie darf man sich das vorstellen? Die Kostüme der Sänger und Spieler, die vielzähligen Leinwände, der Bühnenaufbau auf der Drehscheibe fügen sich zu einem Ganzen. Projiziert werden sich unaufhörlich wandelnde Impressionen, die an atavistische Bildschirmschoner aus der Zeit der Jahrtausendwende denken lassen. Das Bühnenbild setzt sich aus Hügel- und Tempellandschaft zusammen, ein Zeittunnel wie aus Science-Fiction-Filmen leuchtet über dem Geschehen. All das gemahnt an eine Mischung aus Playmobil und Computerspielen der 90er Jahre. Der die Bühne einnehmende Teppich ist genauso ornamental bunt wie die Kostümierungen. Hippietum trifft auf Ethnokitsch und Windows 98. Und all das wirkt auf irgendwie abstoßende Art billig. »Trash« heißt die künstlerische Strategie derjenigen, die nicht den Mut aufbringen, etwas wirklich ernst zu meinen. Für etwas Lebendigkeit angesichts so viel Künstlichkeit sorgen zwei Ziegen, die über die Bühne geführt werden und dem Publikum eine liebe Abwechslung sind.

Ein »posthumanistisches Gesamtkunstwerk über Raum und Zeit« – »posthumanes« dürfte gemeint gewesen sein –, »das die Grenzen zwischen Mensch und Maschine, Realität und Simulation verwischt«, wird im Programmheft angekündigt. Von einer »formalen Spiritualität« ist außerdem die Rede. Muss das denn sein?, fragt man sich. Die Einsteinsche Erkenntnis von der Relativität der Zeit veranlasst die Theatermacher zu einer Anordnung, in der auch die Dauer der Menschheit überwunden ist. Dass aber gerade dieser Umstand durch kultische Bühnenakte, einen aufgebauten Schrein und Prozessionschoreografien esoterisch aufgeladen wird, löst Befremden aus. Es ist eine an Zeichen satte Inszenierung, deren Deutung allerdings führt geradewegs ins Nichts.

Vieles an dieser szenischen Einrichtung des Abends gibt Anlass für Zweifel. Langweilig aber wird es zu keinem Zeitpunkt. Es glückt ein nahezu rauschhaftes Theaterereignis. Grund allein dafür ist aber nicht die fragwürdige eso-futuristische »Trash«-Ästhetik, sondern die geniale Komposition von Glass und deren einnehmende Umsetzung unter der musikalischen Leitung von Jürg Henneberger. Die Musik als mathematischste aller Kunstformen ist gerade richtig, um einen Eindruck von Einsteins Werk zu geben. Und nicht wenige Zuschauer schließen die Augen – gesättigt von der interessanten, aber folgenlosen Bildfantasie von Kennedy/Selg – und lauschen andächtig den Klängen. Das Libretto, das zu einem Großteil aus Zahlenfolgen besteht, will die Welt beschreiben, ohne sie zu bewerten. Violinensoli, die an den passionierten Geiger Albert Einstein denken lassen, sind vielleicht schon der eindeutigste Verweis auf den Wissenschaftler. Der musikalische Fluss, der Wechsel von stetiger Wiederholung und stetiger Variation, lässt die Zeit anders erlebbar werden, das gekannte Zeitgefühl verschwinden und einmal mehr bemerken, dass die Zeit nicht anzuhalten ist. Ist das nicht etwas wenig der Erkenntnis für einen langen Theaterabend? Nicht, wenn die Musik so virtuos, so schön und – man traut sich fast nicht, es zu sagen – so anrührend ist.

Nächste Vorstellungen: 1., 2. und 3. Juli
www.berlinerfestspiele.de

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