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Weil Opa ein Nazi war

Verbreitung rechter Einstellungen in Ostdeutschland: Experten gehen von Quasi-Vererbung aus

  • Sebastian Haak
  • Lesedauer: 5 Min.
Instrumentalisierte Wende-Erfahrung: AfD-Kundgebung mit dem Thüringer Landeschef Björn Höcke auf dem Anger in Erfurt
Instrumentalisierte Wende-Erfahrung: AfD-Kundgebung mit dem Thüringer Landeschef Björn Höcke auf dem Anger in Erfurt

Wann immer in den vergangenen Jahren in einem ostdeutschen Bundesland gewählt worden ist, war die AfD immer stärker als im Westen. Die Unterschiede bestehen auch bei Bundestagswahlen. Zuletzt kamen die Rechtspopulisten bei den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen auf 23,4 bzw. 27,5 Prozent der Zweitstimmen. In Bayern kam die Partei dagegen bei der letzten Landtagswahl 2018 auf 10,2 Prozent der abgegebenen Zweitstimmen, in Hessen waren es 13,1 Prozent und in Schleswig-Holstein ist die Partei bei der Landtagswahl vor etwa acht Wochen sogar an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert und wieder aus dem Landtag geflogen.

Dennoch ist es immer schwierig, auf diesen Riss, der sich durch Deutschland zieht, hinzuweisen. Für Westdeutsche, weil sie schnell als arrogante Oberlehrer erscheinen, für Ostdeutsche, weil sie dann vielen als Nestbeschmutzer gelten. Auf einer Konferenz unter dem Titel »Rechter Osten?!« vor einigen Tagen in Erfurt machten Wissenschaftler aus Ost und West das Phänomen dennoch zum Thema und diskutierten die mutmaßlichen Gründe dafür. Ausgerichtet hatten die Tagung, zu der rund 100 Besucher aus dem gesamten Bundesgebiet angereist waren, die Thüringer Landeszentrale für politische Bildung und Mobit e. V. (Mobile Beratung in Thüringen. Für Demokratie – gegen Rechtsextremismus).

Eine der dort vertretenen Thesen lässt sich so zusammenfassen: Die DDR- und Wende-Erfahrungen vieler Menschen im Osten sind zwar maßgebliche Ursachen für die höhere Zustimmung zu rechtspopulistischen und extrem rechten Positionen in Ostdeutschland. Doch jenseits dessen sind es vor allem über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte hinweg getragene Erzählungen innerhalb von Familien, die solche Denkmuster geformt haben. Der Mann, der dies auf der Tagung am nachdrücklichsten vertrat, heißt Raj Kollmorgen. Der 58-Jährige ist in Leipzig geboren, hat in Berlin Philosophie, Gesellschaftswissenschaften und Volkswirtschaftslehre studiert und ist derzeit Professor an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Hochschule Zittau-Görlitz. Einer seiner Forschungsschwerpunkte sind postsozialistische Transformationen. In Erfurt vergleicht er Mentalitäten mit der Prägung einer Münze: Es sei schwer, wenn auch nicht unmöglich, sie zu verändern. »Es gibt für rechtspopulistische bis offen rechtsextreme Politik im Osten ein Wählerpotenzial von 30, vielleicht sogar 40 Prozent«, sagt Kollmorgen.

Die Einschätzung deckt sich mit den Ergebnissen des Thüringen-Monitors, einer sozialwissenschaftlichen Langzeitstudie. In Westdeutschland kommt die AfD bei Menschen in schlecht bezahlten Jobs Studien zufolge auf eine Zustimmung von etwa 30 Prozent, im Osten dagegen auf 45 bis 50 Prozent.

Kollmorgen sagt, im Osten habe eine Erfahrung der Wendezeit großen Einfluss auf die Entwicklung: »Wenn wir als Ostdeutsche etwas durchdrücken wollen, dann machen wir das auf der Straße.« Daran hätten die AfD, aber auch die Pegida-Bewegung mit ihren Montagsdemonstrationen angeknüpft. So prägte die AfD Slogans wie »Wende 2.0« oder »Vollende die Wende«. Kollmorgen meint aber auch, dass sich Mentalitäten, die in »modernen Rechtspopulismus münden«, bei einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung im heutigen Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt schon seit Jahrhunderten halten. Während sich in weiten Teilen des heutigen Deutschlands Preußen als ziemlich stabile und großräumige Regionalmacht durchgesetzt habe, seien die genannten Gebiete mindestens seit dem Mittelalter immer wieder umkämpft gewesen. Zudem sei dort deutlich kleinräumlicher gedacht und geherrscht worden als weiter nördlich. Das habe zu einer »Überhöhung der eigenen Identität« geführt, »weil man sich immer wieder durch Fremdherrschaften bedroht gesehen hat«. Solche Selbstwahrnehmungen seien in Familien über Jahrhunderte hinweg weitergegeben worden und bildeten bis heute den Nährboden für die Neigung zum Rechtspopulismus, meint Kollmorgen. Er ist sich deshalb sicher, dass entsprechende Einstellungen in der Mitte Deutschlands nicht verschwinden werden, wenn die AfD als Partei an Bedeutung einbüßen sollte. Nicht einmal der Staatssozialismus der DDR habe dies vermocht – im Gegenteil.

Ähnliche Thesen wie Kollmorgen vertritt auch der an der Universität in München lehrende Wirtschaftshistoriker Davide Cantoni. Er zeigte schon nach der Bundestagswahl 2017 auf, dass in Regionen, in denen die AfD besonders stark war, bei Wahlen in den späten 1920er und 1930er Jahren auch die faschistische NSDAP besonders viel Zustimmung erhalten hatte. Die Modelle zur Erklärung der Erfolge von Rechtspopulisten aus anderen europäischen Ländern passten nicht wirklich auf Deutschland und vor allem Ostdeutschland, hatte Cantoni 2019 in einem Interview mit der Wochenzeitung »Die Zeit« gesagt. »Oft wird das mit Arbeitslosigkeit, dem Verlust von gut bezahlten Jobs im Industriesektor oder dem Gefühl begründet, es seien muslimische Parallelgesellschaften in Großstädten entstanden«, sagte er. »Deutschland ist in den vergangenen zehn Jahren das Land in Europa gewesen, in dem die Arbeitslosigkeit gesunken ist, in dem es immer noch eine starke Industrie gibt. Die AfD ist dennoch immer stärker geworden.« Ein wichtiger Teil der Erklärung für den derzeit wieder starken deutschen Rechtspopulismus sei deshalb »eine kulturelle Tradition« von rechtsgerichtetem Denken, so Cantoni.

Kollmorgen und Cantoni liefern mithin plausible Erklärungen dafür, dass in Ostdeutschland zahlreiche junge Menschen mit der AfD sympathisieren. Denn sie haben weder die DDR noch die Wende erlebt, sind meist nicht von Arbeitslosigkeit bedroht und leben fernab von etwaigen muslimischen Parallelgesellschaften. Bei der U18-Wahl in Thüringen vor der Bundestagswahl 2021 war die AfD stärkste Kraft geworden.

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