Bilder wie aus dem Kitschkalender

Sommer in Berlin: Besuch auf den ehemaligen Rieselfeldern zwischen Karow und Hobrechtsfelde

  • Mischa Pfisterer
  • Lesedauer: 7 Min.

Eine Gruppe Fischreiher setzt zur Landung an, im nahegelegen Schilf tummeln sich Enten und Gänse, aus den Bäumen trällert der Kuckuck: In den Karower Teichen beginnt der Tag mit Bildern wie aus dem Kitschkalender. Hier, im äußersten Norden Berlins, befindet sich der südliche Zipfel des Naturparks Barnim. Im September 1998 gegründet, ist dieser das einzige länderübergreifende Großschutzgebiet der Länder Berlin und Brandenburg und zugleich der einzige Naturpark im Land Berlin.

Was man sich heute nicht mehr vorstellen kann: »Das hat früher hier gestunken wie die Pest«, sagt Peter Gärtner, Leiter des Naturparks Barnim. »Dieser ganze Raum hier war bekannt dafür, dass man sich die Nase zuhalten musste.« Und das hing mit den Rieselfeldern um das kleine Straßendorf Hobrechtsfelde zusammen – eine Besonderheit im Naturpark Barnim und das Ziel des morgendlichen Ausflugs.

Die Rieselfelder wurden unter der Leitung von James Hobrecht angelegt, der Mitte des 19. Jahrhunderts als Berliner Stadtbaurat das Entwässerungssystem für die preußische Hauptstadt entwarf. Die Stadt Berlin nutzte die Sandböden außerhalb der Stadt bis Mitte der 1980er Jahre zur Filterung ihrer Abwässer. Diese wurden an den Stadtrand gepumpt, vorgeklärt und dann in Rieselbecken geleitet, um dort langsam im Boden zu versickern.

»Die nährstoffhaltigen Abwässer der Großstadt hat man benutzt, um Landwirtschaft zu betreiben. Deshalb sind in der Zeit auch die großen Rieselgüter außerhalb Berlins entstanden«, erklärt Gärtner. Um die Berliner*innen mit Lebensmitteln zu versorgen, wurde eine Reihe von Gütern im Umfeld der Stadt angekauft, die sogenannten Stadtgüter. »Das System hat gut funktioniert«, sagt Gärtner. »Heute würde man sagen: voll ökologisch und nachhaltig. Teilweise wurden bis zu drei Ernten im Jahr eingefahren.«

Gärtner fährt weiter, Richtung Norden, nach Hobrechtsfelde selbst, kurz hinter der Stadtgrenze, heute ein Teil der Gemeinde Panketal (Barnim), übles Kopfsteinpflaster. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte man sich entschlossen, hier etwas komplett Neues zu errichten. Imposantes Zeugnis ist der ehemalige Kornspeicher, wo sich heute ein Besucherzentrum befindet. Es wurden auch Scheunen, Viehställe gebaut, außerdem wurden im nahen Umfeld einfache Wohngebäude für die Gutsarbeiter und ihre Familien errichtet. Heute handelt es sich um einen begehrten Wohnort.

Über 2000 Hektar Rieselflächen

Die Hobrechtsfelder Rieselfeldlandschaft erstreckt sich über den Norden Pankows und Teile der Gemeinden Panketal und Wandlitz sowie der Stadt Bernau, alles in allem sind es mehr als 2000 Hektar. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Rieselfelder für viele Berliner*innen eine Möglichkeit, ihr Überleben zu organisieren. »Ich weiß von der Großmutter meiner Frau, dass sie auf den Rieselfeldern Kohl angebaut hat, ansonsten hätten sie die ersten Jahre nach dem Krieg nicht überlebt«, erzählt Gärtner. Das ging so bis in die 1960er Jahre. Dann war Schluss mit der Landwirtschaft. Das Problem: zu hohe Belastung durch Industrieabwasser, zu viele Schadstoffe und überhaupt zu viel Wasser. Die, so Gärtner, »eigentlich geniale Idee« habe nicht mehr funktioniert.

Im Jahr 1985 zog man schließlich auch die Reißleine beim Ausbringen des Abwassers rund um Hobrechtsfelde. »Nach 100 Jahren war das Puffervermögen der Landschaft aufgebraucht«, sagt Naturparkchef Gärtner. Von einem auf den anderen Tag wurde das komplette System abgestellt. Auf einmal gab es gar kein Wasser mehr. Das Klärwerk im nahegelegenen Schönerlinde war nun in Betrieb.

»Die 750-Jahr-Feier Berlins 1987 war eigentlich der Anlass für das, was wir heute hier machen«, sagt Gärtner und lacht: »Wer hätte das gedacht!« Denn schon damals sei klar gewesen: »Hier muss was passieren.« Gülle und Schlamm, wohin das Auge reichte. »Da wollte der Osten mal zeigen, dass er besser ist als der Westen.« Der Plan damals: wieder ein Wald, wie er vor den Rieselfeldern dort einmal existiert hatte, und das Ganze zum Naherholungsgebiet für die gestressten Großstädter umbauen. Mit der S-Bahn und der Heidekrautbahn war das Gebiet immerhin gut erschlossen.

Mehrere Tausend Hektar Wald wollte man aufforsten. Dummerweise »hatte das Pflanzmaterial an verfügbaren Waldbäumen nicht für die ganze Fläche gereicht«, sagt Gärtner. Das habe dazu geführt, »dass man alles, was man kriegen konnte, hier gepflanzt hat«. Die Klimakrise hatte, wenig verwunderlich, niemand auf dem Schirm. »Das Verrückte ist: Viele der Baumarten, die eigentlich nicht hierher gehörten, haben es geschafft«, sagt der Leiter des Naturparks. Auch damals fehlte dem Gebiet eben das Wasser. Durch die im Boden liegenden Tondrainagen zur Entwässerung floss das Wasser sowieso schneller von den Feldern ab. Und dann war da ja auch noch die Schwermetallbelastung.

Aus dem Wald wurde jedenfalls nicht so richtig etwas. Es kam zu hohen Ausfällen bei den gepflanzten Bäumen. Nach 1990 wurde das Gebiet trotzdem zum Wald erklärt und fiel den Berliner Forsten zu. »Das war der absolute Glücksfall«, erinnert sich Gärtner, der von Anfang an dabei ist. Eigentlich sei es »Zufall, wie das Leben so spielt«, mit ihm und dem Naturpark. Gärtner studierte an der Humboldt-Universität Geologie und Geschichte auf Lehramt, bis 1988 arbeitete er in Pankow als Lehrer. Dann kehrte er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an die Universität zurück, wurde Leiter des Naturparks Niederlausitzer Heidelandschaft bei Bad Liebenwerda (Elbe-Elster), seit 1998 schließlich: Barnim.

Einst eine einzige Sondermülldeponie, heute artenreicher Lebensraum

Er fand damals vor allem eines vor: Probleme über Probleme. Verseuchter Boden, kaputte Wasserversorgung. Alles eine einzige Sondermülldeponie. Doch Gärtner und seine Mitstreiter*innen hatten einen Plan. Schnell war aber auch klar, dass es hier insbesondere um das Reparieren ging und nicht um das Hegen und Pflegen.

»Was wurde nicht alles ausprobiert«, berichtet Gärtner. Sogar der Baustellenaushub im Zuge der Verlängerung der U-Bahnlinie U2 über die Vinatestraße hinaus Richtung S-Bahnhof Pankow wurde Anfang der 1990er Jahre herangekarrt. 200 Hektar lehmiger, kalkiger Bauschutt. »Ein paar mutige Leute haben damals gesagt: Das nehmen wir und hauen es auf die Rieselfelder«, so Gärtner. Das habe durchaus einen Effekt gehabt, aber auch neuen Ärger beschert. Eine neue Monokultur im Unterboden machte sich nun breit. Auf einmal gab es Waldbrände auf den Rieselfeldern. Vielversprechender war da schon der Ansatz, den die Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde 2005 ausprobierte: wieder einmal Wald, 50 Hektar, wobei zusätzlich aber eine stillgelegte Leitung vom Klärwerk Schönerlinde reaktiviert wurde. »Die Ergebnisse waren bestechend«, sagt der Leiter des Naturparks.

Überraschungen erlebten die Beteiligten auch beim Artenschutz. 70 Wissenschaftler*innen zählten 2007 am »Tag der Artenvielfalt« alles, was flog, kreuchte und fleuchte. »Dabei ist eine Artendichte hier entstanden, die keiner so für möglich gehalten hat«, sagt Gärtner. »Mehr als 1600 Arten wurden dokumentiert – bis heute der artenreichste Lebensraum Berlins.« Damals setzte erstmals großes Rätselraten ein. Ausgerechnet hier? Wie kann das sein? Die Erklärung ist der Landschaftsraum selbst, der einmalige Naturraum mit seinem Wechsel von offenem Land, halb offenem Land und Waldgebieten. Für Gärtner und seine Partner*innen war klar: Das, was hier stattfindet, gibt es bisher in Deutschland noch nicht.

Und so ging es dann auch mit dem Naturpark weiter. Es gab Fördermittel und zahlreiche Forschungsprojekte. Und weiterhin Einmaliges: Koniks und Fjordpferde, Hochlandrinder und Galloways. »Es gibt bis heute in Deutschland keine so große Waldfläche, die von extensiv gehaltenen Robustrindern und Wildpferden beweidet ist«, sagt Gärtner. Tiere, die Wald beweiden – das galt lange als unvorstellbar. 900 Hektar Fläche wurden eingezäunt. Eine Landschaft, die immer frei betretbar war – und plötzlich Zäune, Grenzen. Im Osten. Abgesehen davon, dass es überall Klapptore gibt, durch die die Besucher*innen auf die Weidefläche kommen, setzte mit den Zäunen ein positiver Effekt ein. »Die Flächen werden beruhigt und die Menschen bleiben auf den Wegen und haben trotzdem die Chance, den Tieren nahe zu sein.«

Tief in den ehemaligen Rieselfeldern angekommen, zeigt Gärtner auf die Bäume in der Umgebung: »Hier, schauen Sie, da hat man diesen klassischen hallenförmigen Verbiss, der dadurch entsteht, dass die Tiere fressen, so hoch sie mit dem Hals reichen.« Bis auf Rehhöhe bietet der Wald perfekte Durchblicke. Nicht weit entfernt läuft ein Gruppe Galloway-Rinder umher: Bilder wie aus dem Kitschkalender.

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