• Kultur
  • Schule ohne Pädagogik

Bei der Erziehungsfeuerwehr

Endlich Ferien – auch für eine Berliner Schule, die keine Schule machen sollte

  • Andy Frank Guizot
  • Lesedauer: 7 Min.

Der lang gestreckte Raum ist das Herz dieser ungewöhnlichen Wohnung. Ein Holztisch dominiert ihn. Zwölf Menschen haben dort Platz. Zwölf, die sich täglich hier treffen, um zu spielen, zu reden oder zu essen. Vor dem Fenster ein Hinterhof, ein typischer Hinterhof im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Dem Raum ist ein Flur vorgelagert, zwei Zimmer gehen ab, es sind kleine Räume. Eine Schultafel, drei kleine Schulbänke, ein Regal, ein Sofa. Ist das wirklich ein Klassenzimmer?

Der andere Raum ist ähnlich eingerichtet, hier sind es aber fünf kleine Schulbänke. Wieder eine Tafel. Kein Zweifel, das ist die kleinste Schule, die ich je sah. Hier arbeiten nur zwei Lehrer. Und die Schulbänke? »Wir haben derzeit sieben Schüler, alles Jungs. Nächste Woche besucht uns ein Mädchen zur Probe.« Mirko, mein Gesprächspartner, ist Erzieher hier. Als er fortfahren will, klingelt es. Mirko geht zur Tür. »Lars, Guten Morgen. Nur herein!« Er lässt einen recht großen und fülligen Jugendlichen ein. Als ich erfahre, dass er zwölf ist, stutze ich. »Lars, hilfst du bitte? Du könntest die Gläser und Teller …« Weiter kommt der Pädagoge nicht, denn Lars unterbricht ihn: »Vergiss es.« Dann verschwindet der Angesprochene in einem der Schulräume.

»Der ist in Ordnung«, winkt Mirko ab. »Er ist morgens oft übellaunig, weil er Schlafprobleme hat.« Wir gehen in den langen Raum zurück und ich helfe Mirko, den Tisch zu decken. Dann ist Lars plötzlich neben mir und zeigt einen dicken, zerlesenen Manga: »Kennst du den? Krasse Sache, Alter.« Mirko muss grinsen und stellt mich vor. Ich sei von der Zeitung und wolle wissen, was für eine Schule das sei. »Ich hasse Schule!«, nuschelt Lars und verschwindet wieder. Mirko sagt: »Das ist ein Kind, eins das Pech hatte. Er ist eins-achtzig, wiegt 90 Kilo und wohnt in einer sozialpädagogischen Wohngruppe um die Ecke. Seine Mutter hatte ihn so verprügelt, dass der Arzt kommen musste. Und auf seiner alten Schule wurde er auch verprügelt, er ist das klassische Mobbingopfer.«

»Und er ist wirklich zwölf Jahre alt?« Mirko macht sich am Kühlschrank zu schaffen und lässt ein knappes »Yepp« hören. »Nächsten Monat dann dreizehn.« Es klingelt wieder. Zwei Schüler kommen johlend herein und verstummen irritiert, als sie mich sehen. Dann wird es lebhafter. Kein Wunder, es ist kurz vor acht, Frühstückszeit. Heute sind nur fünf Schüler da. Wie ich später erfahre, ist das nicht ungewöhnlich. »Unser Manuel«, so Mirko, »kommt fast jeden Tag zu spät«. Er sei ein klasse Typ, schaffe es aber nicht, pünktlich zu sein. »Oft sind es Arzt- oder Therapeutentermine, die ihn aufhalten. Es ist selten, dass jemand schwänzt.«

Am Tisch wogen die Gespräche hin und her, als eine junge Frau den Raum betritt und sich mir als Psychologin vorstellt. Die beiden Lehrer und eine weitere Erzieherin komplettieren kurz darauf die Runde. Die Schüler überschütten mich mittlerweile mit Witzen, jeder will meine Aufmerksamkeit: »Kennst du den: Chuck Norris braucht keine Corona-Impfung. Corona braucht eine Chuck-Norris-Impfung!«

Dann beginnt die erste Stunde. »Auf, auf Jungs!« Manfred, Lehrer für Mathe, klatscht laut in die Hände und verschwindet mit drei Jugendlichen in einem der beiden Räume. Er hat heute die Gruppe A. Gruppe B wird von Natalie betreut, sie unterrichtet Deutsch und Englisch. Sie hat nur zwei Schüler dabei. Dann ist es merkwürdig ruhig in dieser seltsamen Wohnung, die eine Schule ist. Ich bleibe allein mit Mirko zurück, seine Erzieherkollegin hat im Büro zu tun. Er zeigt auf eine Tür, die mit »Zutritt nur nach Aufforderung!« beschriftet ist. »Da melden wir die Kinder am Rechner an, führen detailliert Tagebuch über Vorfälle, Gespräche und so.« Dahinter gebe es noch einen kleinen Raum für die Psychologin. Sie unterhalte sich dort mit den Kindern und mache kleinere Tests.

Plötzlich wird es wieder laut, Schreie tönen aus einem der Räume. Es rumpelt. Dann reißt jemand die Tür auf. Mirko springt auf und geht in einen der Schulräume. Die Psychologin eilt hinzu. Ein paar Augenblicke später führt sie einen vor sich hin fluchenden dunkelhaarigen Jungen an mir vorbei nach hinten in ihren Raum. Es ist der Junge mit dem Chuck-Norris-Witz. Unvermittelt tritt Stille ein. Ich beginne zu verstehen, was diese Stille hier bedeutet. Sie ist nur nur flüchtig, ein Hauch – und meist nur die Ankündigung für kleinere oder größere Ausbrüche.

Mirko hatte mir davon schon berichtet: »Diese Kinder haben Sachen erlebt, die niemand erleben sollte. Mobbing, Prügel, Vernachlässigung. Zum Beispiel Achmed. Er ist 14. Zu Hause eine Großfamilie, er geht da völlig unter. Er kann nicht lesen und schreiben; irgendwann ging er nicht mehr zur Schule, klaute, kam vor den Jugendrichter, dann zu uns. Als er hier die Schultafel sah, fing er an zu zittern. Wer hierher kommt, hat jegliches Vertrauen verloren. Und die Kinder wissen: Hier ist Endstation.«

Es klingelt. »Manuel hat ausgeschlafen«, schmunzelt Mirko und erhebt sich. Die Türen zu den beiden Schulräumen gehen gleichzeitig auf. Jetzt ist Pause. Rufe gellen hin und her, Jacken werden übergeworfen, ein Basketball prellt mehrfach zu Boden. Zwei Straßenecken weiter ist ein eingezäunter Spielplatz. Die Jungs toben sich aus – der jüngste ist der große Lars, der älteste ist Manuel, 16.

Sie lachen viel, und von außen betrachtet, erscheinen sie nicht wie verhaltensauffällige oder »schuldistanzierte« Schüler, die nur in Mathe, Deutsch und Englisch unterrichtet werden. Drei Stunden – länger ist ihr Schultag nicht. Und der Freitag ist nur für Projekte reserviert. Mathelehrer Manfred merkt an, dass die dritte Stunde für etliche schon zu viel ist. Er zeigt auf Achmed: »Er kann im Zahlenbereich bis 20 rechnen.« Natalie nickt und erzählt, dass er nach drei Sätzen seinen Stift an die Wand werfe: »Drei Sätze in 20 Minuten!«

Um 13 Uhr ist Schulschluss. Aber für die Erzieher geht es weiter. Spielplatz. Einkauf mit den Kindern. Spielerunde. Es ist 16 Uhr, als der letzte Schüler den Heimweg antritt. Mirko fasst seine Arbeit zusammen: »All unsere Jungs sind im Grunde Sozialfälle. Die meisten Familien sind arm, überfordert und hilflos. An den Schulen wird gnadenlos selektiert. Wer nicht mitkommt, hat Pech: Wer immer wieder Probleme macht, fliegt!« Diese Berliner Miniatur-Schule trägt ein privater Verein. Nur mit Pädagogik habe das nichts zu tun, sagt Mirko: »Null Interesse! Wir sind allenfalls die Erziehungsfeuerwehr und verhindern das Schlimmste. Das Konzept, das bunt und vielversprechend im Internet präsentiert wird, wird nicht umgesetzt.« Die Psychologin kommt dreimal die Woche, doch die Kinder sind fünf Tage da. Es gibt keinen Sozialpädagogen, und auch ein Sportlehrer fehlt.

Die Psychologin bekommt 18 Wochenstunden bezahlt. Wer kann davon leben? Und auch das Gehalt von Mirko liegt 10 Prozent unter dem Tarif des Senats. »Meine letzte Lohnerhöhung liegt vier Jahre zurück. Und wenn der Senat einmal im Jahr seine Leute schickt, wird heile Welt gespielt. Die Kinder haben an dem Tag frei.« Mirko deutet an, dass er bald kündigen werde, um in den öffentlichen Dienst zu wechseln. Erzieher sind sehr gesucht in Berlin. Und doch plagt ihn sein Gewissen: »Was soll aus den Kindern hier werden? Denen wird hier nicht geholfen. Das Konzept müsste inhaltlich überarbeitet werden. Die spielen hier Minischule, aber die Jungs hassen Schule, die wehren sich. Die brauchen andere Angebote.«

Der Träger kassiert hohe Fallpauschalen und erwartet nur eins: Ruhe. Jetzt sind erst mal Sommerferien. Da scheppert es. Im Hinterhof werden Mülltonnen nach draußen gezogen. Ich bedanke und verabschiede mich. Mir ist mulmig zumute. Ich hätte Mirko gern etwas Tröstliches gesagt, aber mir fiel nichts ein. Rein gar nichts.

Anmerkung: Sämtliche Namen im Text wurden geändert.

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