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Weinen um Kohl
Spaß und Verantwortung: Die Folgen antiautoritärer Erziehung
Wenn man sich, wie ich, dem 30. Geburtstag nähert, fängt plötzlich etwas an, wovon man sein Leben lang gehört hat und was man dennoch nie ganz realisieren konnte (oder wollte): Menschen, die so alt sind wie man selbst, verloben sich, heiraten, und sie vermehren sich. Und als nicht verlobte, kinderlose Fast-30-Jährige sieht man die eigenen Freund*innen zum ersten Mal Dinge tun, die man als Kind die eigenen Eltern hat tun sehen – nur dass man dieses Mal auch hinter die Kulissen schauen kann und zum Beispiel erkennt, warum die Erwachsenen immer so besonders laut und schrill lachen, wenn sie abends Besuch von anderen Erwachsenen bekommen und Getränke trinken, von denen ihre Lippen und Gesichter rot anlaufen und die dazu führen, dass sie beim Gute-Nacht-Kuss so komisch säuerlich aus dem Mund riechen.
Wenn ich meine ungefähr gleichaltrigen Freund*innen mit Nachwuchs dabei beobachte, wie sie ihre Kinder erziehen, dann habe ich häufig das Gefühl, dass die Kinder auf eine ähnliche Art aufwachsen wie ich selbst in den 90ern. In Kreuzberg nannte man das Erziehungsmodell antiautoritär, und es beinhaltete verschiedene Dinge: zum Beispiel, dass man seine Eltern mit Vornamen anredete und man wenig Grenzen hatte, wenig Ver- und Gebote und man sehr früh einigermaßen wichtige Entscheidungen eigenständig treffen durfte. Als meine Eltern heirateten, war ich fünf Jahre alt, und da sie ihre Nachnamen behielten, durfte ich selbst entscheiden, wie ich von nun an heißen wollte. Ich wählte nach Sympathie für die eine und gegen die andere Großmutter aus, und natürlich trage ich ihren (ziemlich generischen) Nachnamen bis heute.
Ich habe also, im Gegensatz zu den meisten meiner etwa gleichaltrigen Freund*innen, die einigermaßen autoritär erzogen wurden, eine Generation übersprungen und habe deshalb, in gewissen Hinsichten, ganz andere Probleme als sie. Wenn man etwa sein Kind sehr früh als entscheidungstragende Instanz ernst nimmt, passiert es, dass diese Kinder Schwierigkeiten haben, mit anderen Kindern zu kommunizieren. Erst als die anderen Kinder endlich auch Erwachsene wurden, so mit Mitte 20, schaffte ich es, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen, die auf einem Verständnis füreinander auf Augenhöhe basierte. Trotzdem fühle ich mich auch heute im Zusammensein mit anderen Kindern in meinem Alter häufig fehl am Platz und wie eine Spielverderberin, wohingegen ich mit Boomern problemlos zurechtkomme. Ich warne meine gleichaltrigen Freund*innen also häufig vor den Nebenwirkungen ihrer antiautoritären Erziehung – wahrscheinlich vergebens und vielleicht auch unnötigerweise, denn in einer ganzen antiautoritär erzogenen Generation mischen sich die Karten ja wieder neu. Wie genau, das gilt es noch (gespannt) abzuwarten.
Dass meine Eltern mit ihrem Laissez-faire-Erziehungsprogramm ein regelrecht reaktionäres Kind aufzogen, merkten sie spätestens bei der Bundestagswahl 1998, als Helmut Kohl sein Amt als Bundeskanzler abgeben musste. Wir schauten auf unserem kleinen roten Röhrenfernseher die Wahl, die aufregend war wie ein spannender Film. Als das Ergebnis bekannt gegeben wurde, war meine Mutter – wenn auch kein riesiger Fan von Gerhard Schröder – begeistert: Eine rot-grüne Regierung, das war besser als sie es sich nach einer unendlich scheinenden Zeit, in der die CDU regiert hatte, hätte träumen lassen. Noch im euphorischen Rausch ihres Wahlsiegs begriffen, merkte sie plötzlich, dass ich laut schluchzte. Sie fragte mich, warum ich traurig sei. Ich sagte ihr, dass ich Mitleid mit Helmut Kohl hätte: Das betrübte Quallengesicht des scheiternden Patriarchen hatte mich zu Tränen gerührt.
Es gab mehrere irritierende Momente dieser Art, die meinen Eltern ihr eigenes Scheitern als Antiautoritäten vorführten, da sie meine Affinität zu konservativen Autoritäten zur Schau stellten: Meine Faszination für Lehrerinnen, die besonders streng waren, meine Hingabe zum Drill in der klassischen Musikausbildung und mein Bekenntnis zum Christentum als 14-Jährige sprachen für sich. Ich war außerdem in Fernsehkrimis (meine Eltern ließen mich bereits im Kindergartenalter mit ihnen „Tatort» schauen; ich habe deshalb bis heute Angst im Dunkeln) immer auf der Seite der (meist männlichen) Mörder, und als wir zusammen in der Oper waren („Carmen» von Georges Bizet) heulte ich am Ende nicht etwa lautstark um die (von ihrem eifersüchtigen Lover) ermordete Carmen, sondern um den Lover, der mir in seiner verzweifelten (und lebendigen) Schuldigkeit viel bemitleidenswerter vorkam. Ich sage es nur ungern, denn ich liebe sie sehr, aber meine Eltern scheinen (politisch) mit mir wirklich alles falsch gemacht zu haben.
Eine Diskussion, die ich als Kind mitbekommen habe, ist das Problem des Schreienlassens. Meine (als Kind präferierte) Großmutter kritisierte meine Eltern dafür, dass sie mich immer trösteten, wenn ich (als Säugling) weinte, statt mich einfach mal im Nebenzimmer vor mich hin plärren zu lassen. Warum ich in diesen Diskurs einbezogen wurde, ist mir rätselhaft. In der Schweiz sagt man jedenfalls, man soll die Kinder weinen lassen – denn während sie weinen, wächst ihnen das Herzl. Ich habe zum Glück, obwohl ich getröstet wurde, sehr viel geweint, zumindest kommt mir mein Herz (leider) eher zu groß als zu klein vor.
Als ich in die Grundschule kam, entschied ich, meine Eltern nicht mehr beim Vornamen zu nennen. Der Druck durch die anderen, normal erzogenen Kinder war einfach zu hoch. Ich nenne meine Eltern bis heute Mama und Papa – mit wenigen Ausnahmen.
Einen einzigen Erfolg konnten meine Eltern allerdings verzeichnen: Als sie mir, einer damals Fünfjährigen, unterbreiteten, sie hätten sich entschieden zu heiraten, protestierte ich lautstark mit dem Argument, sie wären dann nicht mehr frei. Es stellte einen Kontrapunkt zu meinen, wie sie mir immer vorwarfen, spießigen Ansichten dar – einen Tag später unterbreitete ich ihnen dann aber, im Zusammenhang mit einer komplizierten Flechtfrisur, die ich mir zum Hochzeitsfest wünschte: Wer schön sein will, muss leiden.
Übrigens: Es ist erstaunlich, aber – die Kinder in meinem Alter tanzen bei ihren Verlobungsfeiern zum Großteil immer noch zu denselben Liedern wie die (betrunken lachenden) Freunde meiner Eltern damals.
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