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Minister verlassen sinkendes Schiff

Die von Skandalen erschütterte britische Regierung verliert weitere Mitglieder

  • Ian King, London
  • Lesedauer: 4 Min.

Der britische Premierminister Boris Johnson verliert rasant an Rückhalt in den eigenen Reihen. Am frühen Mittwochnachmittag traten gleich fünf Staatssekretär*innen um die Gleichstellungsbeauftragte Kemi Badenoch auf einen Schlag zurück. Es werde immer deutlicher, dass die Regierung nicht mehr funktioniere, schrieben sie. Alle gelten als junge, aufstrebende Polittalente. Damit legten bisher 28 Amtsträger von Johnsons Konservativer Partei wegen des Verhaltens des Regierungschefs ihre Posten nieder, wie der Sender Sky News berichtete.

Zuerst ging Gesundheitsminister Sajid Javid mitten im Aufflammen einer weiteren Coronakrise, dann Finanzminister Rishi Sunak, bisher treueste Stütze des Premiers Boris Johnson. Es folgte eine Reihe von Juniorministern und parlamentarischen Staatssekretären, darunter der Staatssekretär für Kinder und Familien, Will Quince, der noch am Montag Johnson in den Fernsehstudios verteidigt hat. Der Kapitän weicht aber nicht von der Brücke, sondern hat schon Nachfolger ernannt, als ob nichts geschehen wäre. Alltag im britischen Unterhaus?

Nach seinem Rücktritt hat Javid seine ehemaligen Kabinettskollegen indirekt dazu aufgerufen, Premierminister Johnson zu stürzen. »Nichts zu tun, ist eine aktive Entscheidung«, sagte der zurückgetretene Politiker am Mittwoch im Parlament in London. »Diejenigen von uns, die in einer Position sind, haben die Verantwortung, etwas zu ändern.« Etwas laufe grundsätzlich falsch. »Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass das Problem an der Spitze zu finden ist, und das wird sich nicht ändern«, sagte Javid, ohne Johnson namentlich zu nennen.

Der britische Regierungschef schloss einen Amtsverzicht am Mittwoch weiterhin aus. »Die Aufgabe eines Premierministers unter schwierigen Umständen, wenn ihm ein kolossales Mandat anvertraut wurde, ist es, weiterzumachen, und das werde ich tun«, sagte Johnson im Parlament.

Der Rücktrittswelle vorausgegangen war nach der Owen-Patterson-Affäre, dem Partygate-Märchen und halbherzigen Entschuldigungsversuchen Johnsons eine weitere unwahre Angabe des Premiers. Der sturztrunkene stellvertretende parlamentarische Geschäftsführer der Tories, Chris Pincher, musste letzte Woche gehen, weil er im vornehmen Carlton-Club andere Männer begrapscht hatte. Aber nicht der ursprüngliche Vorfall war das Problem, sondern Johnsons wiederholter Versuch, Pinchers vor kurzem erfolgte Beförderung zu erklären. Mit dem Rücktritt habe Pincher seine Schuld gesühnt, er habe von früheren sexuellen Verfehlungen des »Senioreinpeitschers« nichts gewusst, sagte Johnson – bis der darüber erboste ehemalige Chefbeamte des Außenministeriums, Lord Simon McDonald, an einen ähnlichen Vorfall mit Pinchers im Jahr 2019 erinnerte, der in Regierungskreisen Aufsehen erregt hatte. Er habe diesen Vorfall aber vergessen, als er Pincher neulich befördert habe, gab Johnson kleinlaut an.

Ob ein derart Vergesslicher im ersten Staatsamt bleiben dürfe, fragte sich sein Kabinett, das bisher eher durch unbedingte Treue zum Chef als durch eigenes Talent geglänzt hat. Javid und Sunak verneinten diese Frage, zogen Johnsons Taktik in der Pincher-Affäre – und indirekt auch seine Wahrheitsliebe – in Zweifel und gingen von Bord. Aber unter Tories finden sich immer neue Jasager. Nadhim Zahawi, bisher Bildungschef, im Irak geboren und erfolgreicher parlamentarischer Organisator der Impfstoffkampagne gegen Covid-19, rückt zum Finanzminister auf, Nachfolgerin im Bildungsministerium wird die bisherige Universitätsministerin Michelle Donelan. Neuer Gesundheitsminister wird Johnsons Stabschef Steve Barclay, der jedoch in seiner Karriere als Brexit-Minister keine Erfolge, dafür aber Nibelungentreue zum Chef aufzuweisen hat. Auch für die zurückgetretenen Juniorminister und Mappen tragenden parlamentarischen Staatssekretäre wird sich bestimmt Ersatz finden: Ehrgeizige Tories sterben nicht aus.

Aber Freunde Johnsons wohl. Im vorigen Monat stimmten mehr als 40 Prozent der konservativen Fraktion gegen den Premier, eine Zahl, die durch die Rücktritte offensichtlich erhöht wurde. Johnsons Minuswerte in allen Umfragen, seine Lügen und die Unfähigkeit, der rapide steigenden Lebenshaltungskosten Herr zu werden, führen zu einer Götterdämmerungsstimmung quer durch die eigenen Reihen. Die beiden verlorenen Nachwahlen vor zehn Tagen in Wakefield und Tiverton verstärken die Unsicherheit bei Tory-Abgeordneten, die die nächste Parlamentswahl – und vor allem ihre Wahlkreise und ihr bequemes Leben – bald verloren sehen.

Spätestens 2024 wird das Volk wieder an die Urnen gehen. Mag Johnson sich brüsten, die Misstrauensabstimmung in der Fraktion abgewehrt zu haben und sich dadurch laut Parteiregeln ein weiteres Jahr im Amt gesichert zu haben – der Tory-Widerstand wächst. Und Regeln könnten auch geändert werden, behaupten rechte Kandidaten für Posten im einflußreichen Parteiausschuss der sogenannten Hinterbänkler wie Steve Baker und Andrew Bridgen. Schließlich gewann Vorgängerin Theresa May ihr Misstrauensvotum 2019 mit deutlicherer Mehrheit als Johnson.

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