Ein verlorener Klassiker

Wer war Hermann Borchardt? Der zweite Band der Werkausgabe stellt die Dramen des erst linksrevolutionären, später erzkatholischen Zeitgenossen Bertolt Brechts vor

  • Erik Zielke
  • Lesedauer: 5 Min.
Hermann Borchardt mit seinen Kindern zu Beginn der 30er Jahre
Hermann Borchardt mit seinen Kindern zu Beginn der 30er Jahre

Ein junger Autor, seine Name lautet Bertolt Brecht, war gerade 23 Jahre alt, als er festhielt: »Ich beobachte, dass ich anfange, ein Klassiker zu werden.« Eine selbstbewusste, aber auch sicher die sehr richtige Einschätzung eines aufsteigenden Literaten. Wie aber weiß man, dass ein Schriftsteller zum Kanon gehört, dass er ein Klassiker geworden ist oder zumindest beginnt, einer zu werden? Nicht gerade wenigen war der große Ruhm erst postum gewährt. Ein paar Indizien kommen einem allerdings in den Sinn: Hat ihre Art zu schreiben Schule gemacht? Sind sie ein Bezugspunkt für nachfolgende Schreiber? Auch Preise können Auskunft geben. Und ganz sicher kann man sich sein, dass es ein Schriftsteller zu wahrer Größe gebracht hat, wenn ihm eine Werkausgabe, immer auch ein verlegerisches Großprojekt, gewidmet wird. Egal, ob historisch-kritischer Art und mit höchstem wissenschaftlichen Anspruch oder von letzter Hand des Autors und vielleicht um die eine oder andere zweitrangige Schrift bereinigt, ist die Werkausgabe die Garantie, dass es ein Autor verdient, in Gänze studiert zu werden.

Bei Hermann Borchardt ist alles anders. Dem fast vergessenen Schriftsteller wird die Ehre zuteil, eine auf fünf Bände angelegte Werkausgabe zu erhalten, die die Entdeckung seines Werkes überhaupt erst möglich macht. Nachdem im vergangenen Jahr der erste Band mit autobiografischen Schriften veröffentlicht wurde, ist dieser Tage Band 2 erschienen, der das dramatische Werk des Künstlers zugänglich macht. Aber wer kennt überhaupt noch den gebürtigen Berliner, geschweige denn dessen Texte?

Will man Hermann Borchardt auf die Spur kommen, versagen viele einschlägige Literaturlexika. Keine oder gar fehlerhafte Informationen findet man vor. Zieht man Wikipedia zurate, bekommt man nur eine vage Vorstellung vom wirklich bewegten Leben dieses Mannes. 1888 als Sohn einer jüdischen Mutter zur Welt gekommen, wird er christlich erzogen und nimmt ein Studium der Philosophie, Germanistik und klassischen Philologie auf. Auf seine Promotion folgt eine Tätigkeit als Lehrer. Borchardt wird ein Schriftsteller – im Nebenberuf allerdings. Mit Beiträgen für die KPD-nahe Satirezeitschrift »Der Knüppel« beginnt er seine zweite Laufbahn. Borchardt bewegte sich im Berliner Umfeld linker Künstler der Weimarer Jahre. Den Mut, die sichere Kleinbürgerexistenz aufzugeben, findet er nicht. Als Mitarbeiter Bertolt Brechts leistet er seinen Beitrag zu dem Drama »Heilige Johanna der Schlachthöfe«, aber auch zu »Der Brotladen« und dem »Fatzer«-Fragment, und findet so seinen Platz in der Literaturgeschichte. Die eigenen literarischen Arbeiten sind gekennzeichnet von vielen beinahe geglückten Möglichkeiten: Aufführungen seiner Stück an der Berliner Volksbühne sind angedacht und kommen dann doch nicht zustande; Erwin Piscator will seine Texte in Szene setzen und tut es dann doch nicht. 

1933 muss Hermann Borchardt den Nazi-Staat verlassen. Über Paris gelangt er nach Minsk, wo er eine Stelle an der Universität bekleidet. Die Sowjetunion wird ihm nur für kurze Zeit eine Zuflucht. Mitsamt seiner Familie kehrt er 1936 nach Deutschland zurück. Seine Ausweisung aus dem sozialistischen Staat klingt wie ein aufgeschobenes Todesurteil, vielleicht – so zynisch ist die Geschichte – war sie seine Rettung. Schwer geschädigt übersteht er Jahre in Konzentrationslagern. 1937 kann er Deutschland für immer verlassen. Die USA werden sein Zuhause, der Katholizismus wird seine ideelle Heimat. Schriftstellerischen Erfolg findet er hier jedoch genauso wenig. Er stirbt 1951 in New York.

Wie kann man den politischen Werdegang dieses Mannes beschreiben? Möglicherweise setzt seine Politisierung mit seiner Kriegsgegnerschaft in den 1910er Jahren ein – eine denkbar unpopuläre Haltung. Er nähert sich linken Sozialdemokraten und Kommunisten an, wird aber nie ein Apologet des real existierenden Sozialismus sowjetischer Spielart. Die Erfahrungen in Minsk, mehr noch die Zeit unter faschistischer Folter haben Borchardts Weltbild erschüttert. Es wundert einen nicht. Im christlichen Glauben hat er die Wunden der Zeit zu heilen versucht.

Die Herausgeber, Hermann Haarmann, Christoph Hesse und Lukas Laier, hatten die schwierige, aber sicher auch beglückende Aufgabe, nie publizierte Texte ausfindig zu machen, ein ungespieltes Dramenwerk zu entdecken. Der erwähnte Wikipedia-Eintrag hält für den interessierten Leser folgende Information bereit: »Drei Bühnendramen, die 1928 im S. Fischer Verlag erschienen, sind bis heute verschollen.« Verschollen? Die drei Herausgeber haben jene Texte aus der Versenkung geborgen. Um fast unverhoffte Archivfunde handelt es sich. In diesem Fall entspricht die editorische Tätigkeit tatsächlich einer Schatzsuche. Und die hat sich gelohnt.

Sieben Dramen, zwei Stückfragmente und einige hinterlassene Szenen sind nebst ausführlichem Kommentar in dem fast 700 Seiten starken Band versammelt. Dass diese Stücke bisher kein Publikum im Theater finden konnten, ist den Zeitläuften geschuldet. Sie geben zweifelsohne Zeugnis von literarischer Qualität, auch von einer gewissen Originalität. Sie stehen noch in einer expressionistischen Tradition, sind aber bereits als Versuche einer ganz eigenen Formgebung erkennbar. »Die Bluttat in Germersheim vor dem ewigen Richter«, sein erstes Drama, das den Untertitel »Nationales Trauerspiel in drei Teilen auf einer Szene« trägt, ist ein Abgesang auf die unverbesserliche Deutschtümelei. 1926 entstanden, ist es eine rituelle Verdammung von Franzosenhass und reaktionärem Eifer. Ebenso zu erwähnen ist »Die Brüder von Halberstadt«, sein »Historisches Drama aus der Hitler-Zeit«, das einer antifaschistischen Dramatik zuzuordnen ist und wort- und bildstark den christlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus zeigt und das fast unmögliche Wagnis eingeht, auch eine Szene im Konzentrationslager anzulegen, die autobiografisch fundiert ist. Die seltene dramatische Hinterlassenschaft eines Shoah-Überlebenden.

Mit dieser Edition steht der Lektüre von Borchardts Werken nichts mehr im Weg. Nun sind die Theater am Zug, diesen Texten auch ein Bühnenleben zu schenken.

Hermann Borchardt: Werke. Band 2. Stücke. Hrsg. v. Hermann Haarmann, Christoph Hesse und Lukas Laier. Wallstein, 687 S., geb., 49 €.

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