Fan und Opfer des Militärs

Ex-Premier Shinzo Abe war ein Gegner der pazifistischen Verfassung. Nun starb er nach einem Attentat

  • Felix Lill
  • Lesedauer: 4 Min.

Als Shinzo Abe am Freitagmittag japanischer Zeit zusammensackte, war etwas Paradoxes geschehen. Der Mann, der dem ostasiatischen Land ein stärkeres Militär bescheren wollte, war offensichtlich von einem Mann erschossen worden, der einst für diese Institution gearbeitet hatte: die Selbstverteidigungskräfte. Wegen der pazifistischen Nachkriegsverfassung dürfen sie nicht Militär heißen, haben aber de facto diese Rolle.

Rund sechs Stunden nach dem Attentat in der westjapanischen Stadt Nara starb der Ex-Premierminister an seinen Verletzungen. An einer Straßenkreuzung hatte er eine Wahlkampfrede im Zuge der am Sonntag anstehende Oberhauswahl gegeben, der zweiten Kammer des japanischen Parlaments. Als der Tod Abes bestätigt wurde, befand sich das Land längst in einer Art Schockzustand. Fernsehsender lieferten minutenweise Updates. Freunde leiteten sich auf den Smartphones Nachrichten weiter. Längst war bekannt, dass Abe im Krankenhaus kein Lebenszeichen mehr von sich gab.

Der Tod des 67-Jährigen hinterlässt in der japanischen Politik eine große Lücke. Ab 2006 und 2012 hat Shinzo Abe Japan jeweils für ein und knapp acht Jahre regiert – länger als jeder andere japanische Premierminister. Zweimal trat er nach diversen Skandalen – vom millionenfachen Verlust von Rentendaten über Vetternwirtschaft bis zur illegitimen Verwendung von Steuergeldern – mit schlechten Beliebtheitswerten zurück. Zweimal gab er offiziell eine seltene Darmerkrankung als Grund an, von der er sich nach einer kurzen Ruhephase jeweils wieder zu erholen schien.

Aber dass die politische Karriere Shinzo Abes trotz dieser Skandale so lang und einflussreich verlaufen ist, sagt auch einiges über das Talent des nationalistisch eingestellten Politikers aus. Als Spross einer Politikerdynastie wurde er 52-jährig zum jüngsten Premier seines Landes. Schon damals machte er kein Geheimnis daraus, dass Japan durch seine Verfassung, die durch die im Zweiten Weltkrieg siegreichen USA oktroyiert worden war, aus seiner Sicht stark eingeschränkt sei. Ohne schlagkräftiges Militär sei Japan kein »normaler Staat«.

Im bis heute mehrheitlich pazifistisch eingestellten Land machte sich Abe mit dieser Haltung immer wieder Feinde, holte sich im konservativen Lager aber auch Applaus ab und baute darauf seine Karriere. In seiner ersten Phase als Premierminister wertete er die Selbstverteidigungskräfte mit einem eigenen Ministerium auf. Als er ab 2012 erneut regierte, beschloss Abe, dass Japans Verteidigungsministerium fortan auch strategischen Partnerstaaten zur Hilfe eilen dürfe, sofern diese und damit auch Japan existenziell bedroht seien. Kritiker bewerteten dies als verfassungswidrig. Abes größtes Ziel war, die Verfassung umzuschreiben und den für Konservative ungeliebten Pazifismusartikel 9, der die Kriegsführung und ein vollwertiges Militär verbietet, zu beseitigen. Dafür haben ihm aber trotz starker Mehrheiten stets die nötigen Machtverhältnisse gefehlt.

Sein Tod dürfte auch eine Debatte darüber auslösen, wie politische Veranstaltungen und öffentliche Events abgesichert werden müssen. In Japan ist man stolz darauf, dass es wenig Straßenkriminalität gibt. Kaum ein Land gilt als so sicher wie Japan. Allerdings hat sich der mutmaßliche Mörder seine Mordwaffe selbst gebastelt. Da half auch das restriktive Waffenrecht nicht.

Premierminister Fumio Kishida, der wie Shinzo Abe der übermächtigen Liberaldemokratischen Partei (LDP) angehört, ordnete am Freitagabend an, dass Politiker künftig stärker bewacht und beschützt werden sollen. Es ist eine Reaktion, die in erster Linie Symbolwirkung haben dürfte. Denn Schüsse aus der Ferne wären auf Politiker und andere Prominenten wohl weiterhin möglich.

Die Maßnahme erinnert an frühere Antworten japanischer Politik auf Krisensituationen. So wurden auf einen Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn im Jahr 1995 diverse Mülleimer in der Stadt beseitigt. Auch in der Pandemie fiel Japan teils durch Symptombekämpfung auf: Während nur wenig getestet wurde und die Impfungen verspätet begannen, wurden sofort die Grenzen geschlossen – und bleiben bis heute praktisch dicht.

Solche Reaktionen senden an die Gesellschaft das Signal, dass die Politik ein akutes Problem ernstnimmt, wenngleich sie jedoch noch keine Lösung parat hält. So ist es wohl auch im Fall des Attentats auf Shinzo Abe, über dessen Gründe in den nächsten Tagen und Wochen in Japan noch ausführlich debattiert werden wird. Wahrscheinlich ist, dass die Schüsse kaum auf eine generell heiklere Sicherheitslage im Land hindeuten, sondern eher ein Einzelfall sind.

Eine Hinterlassenschaft von Shinzo Abe, um den auch seine politischen Gegner trauern, bleibt: Über die Rolle der Selbstverteidigungskräfte wird inmitten des Ukraine-Kriegs und wegen des Attentats intensiv diskutiert.

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