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  • Geschichte der Sexualwissenschaft

Beispiellos und wegweisend

Der Medizinhistoriker Rainer Herrn erzählt in einem neuen Buch die Geschichte des Instituts für Sexualwissenschaft im Berlin der Weimarer Republik. Gründer Magnus Hirschfeld und seine Mitarbeiter gehörten zu den ersten Opfern der Nationalsozialisten

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 6 Min.
Nicht nur trockene Theorie: Magnus Hirschfeld (2. v. r.) bei einem Kostümfest im Institut für Sexualwissenschaft, das auch Anziehungspunkt für internationale Künstler*innen und Intellektuelle war
Nicht nur trockene Theorie: Magnus Hirschfeld (2. v. r.) bei einem Kostümfest im Institut für Sexualwissenschaft, das auch Anziehungspunkt für internationale Künstler*innen und Intellektuelle war

Magnus Hirschfeld ist eine Ikone der Schwulenbewegung. Als Arzt kämpfte er vor und nach dem Ersten Weltkrieg gegen den Paragrafen 175, der gleichgeschlechtliche Beziehungen von Männern unter Strafe stellte. Weniger bekannt ist seine Rolle als wegweisender Pionier der deutschen Sexualwissenschaft. Das von ihm 1919 gegründete Forschungsinstitut war zugleich Fluchtpunkt, Beratungsstelle, Tagungsort und ein Zentrum politischer Aktivitäten.

Die Geschichte dieser »beispiellosen Institution, die wie kaum eine zweite den liberalen Geist der Weimarer Zeit repräsentierte«, wie es im Klappentext heißt, hat jetzt Rainer Herrn detailliert aufgearbeitet. Der Medizinhistoriker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter mit den Schwerpunkten Psychiatrie sowie geschlechtliche und sexuelle Minderheiten an der Berliner Charité. Als roten Faden nutzt er die Biografie des 1868 geborenen »Sanitätsrats« Hirschfeld. Dessen persönliche Verdienste für die Sexualforschung sind heute unbestritten, sie gebühren ihm jedoch keineswegs allein: Er konnte sich auf einen hochqualifizierten Stab an Mitarbeitenden überwiegend jüdischer Herkunft stützen.

Der Autor Rainer Herrn studierte und promovierte vom Ende der 1970er bis in die 1980er Jahre an der Universität Leipzig Verhaltensforschung und Verhaltensgenetik. Er spezialisierte sich in den 1990er Jahren auf die Geschichte der Sexualwissenschaft und nutzte Forschungsaufenthalte im westlichen Ausland. Sein nun vorliegendes Buch zur Geschichte des Instituts ist keine kompliziert geschriebene wissenschaftliche Qualifikationsarbeit, sondern auch für Laien gut lesbar. Dennoch bestehen fast 200 der insgesamt 680 Seiten aus Anmerkungen in Fußnoten und Literaturhinweisen.

Wissenschaft mit öffentlichem Auftrag

Der etwas unverständlich klingende Titel »Der Liebe und dem Leid« bezieht sich auf die lateinische Inschrift »amori et dolori sacrum«, die an der Fassade des Instituts für Sexualwissenschaft in der Nähe des Berliner Tiergartens angebracht war. Gründer Hirschfeld verstand die Einrichtung als »Forschungs-, Lehr-, Heil- und Zufluchtsstätte«. Sie sollte der wissenschaftlichen Untersuchung des »menschlichen Liebeslebens« in allen ihren Facetten, »in biologischer, medizinischer, ethnologischer, kultureller und forensischer Hinsicht« dienen.

Der jungen Disziplin schien damals die Zukunft zu gehören. Eine umfangreiche Bibliothek, vielfältige Sammlungen, Forschungsprojekte, Beratungs- und Therapieangebote lockten Patienten und Besucherinnen aus der ganzen Welt an. Menschen aller Schichten konnten sich vor Ort über Methoden der Empfängnisverhütung oder den Schutz vor Geschlechtskrankheiten informieren. Die besonders erfolgreichen sogenannten »Frageabende«, für die nur ein geringes Eintrittsgeld verlangt wurde, richten sich gezielt an ein breiteres Publikum aus dem Arbeitermilieu.

Das Institut bekam keine öffentlichen Zuschüsse, die Ressourcen stammten nahezu ausschließlich aus dem Privatvermögen des Gründers. Nach der staatlichen Anerkennung der Magnus-Hirschfeld-Stiftung waren es vor allem Zinserträge, die allerdings durch die galoppierende Inflation größtenteils aufgefressen wurden. Vierzehn Jahre lang, bis zur Schließung 1933, hat Hirschfeld sein Herzensprojekt weitgehend aus eigener Tasche finanziert. Er hielt lukrative Vorträge im In- und Ausland, zudem verfasste er immer wieder forensische Gutachten für Strafprozesse.

Das Institut vertrieb zahlreiche Publikationen zur Sexualaufklärung. Eine weitere Einnahmequelle war die medizinische Behandlung, für die es sogar eine offizielle Zulassung der Krankenkassen gab. Zeitweise kooperierte die Einrichtung auch mit der Pharmaindustrie und unterhielt Verbindungen Anfang der 1920er Jahre vor allem zum Leverkusener Chemiekonzern Bayer, der schon damals an der Entwicklung von Medikamenten zur Behandlung sexueller Funktionsstörungen arbeitete. Später produzierten Hirschfeld und sein Team in Kooperation mit kleineren Herstellern aus Hamburg und Berlin sogar eigene Potenzmittel.

Die »Theorie der Zwischenstufen«

Das Institut war nie eine rein wissenschaftliche Einrichtung. Es verstand sich auch als Informations- und Beratungszentrale, als sicherer Ort für vom rigiden Sexualstrafrecht bedrohte Homo- und Transsexuelle – und nicht zuletzt als politischer Akteur. »Aktionsausschüsse« und Komitees starteten Kampagnen gegen das Abtreibungsverbot (Paragraf 218) und gegen das Verbot homosexueller Kontakte unter Männern (Paragraf 175). Die lesbische Liebe von Frauen war in der Weimarer Republik übrigens nicht strafbar.

Die Erfolge blieben zunächst aus. Die gleichgeschlechtliche Lebensweisen diskriminierende Gesetzgebung wurde von den Nationalsozialisten sogar weiter  verschärft. Die junge Bundesrepublik übernahm diesen äußerst rigiden »Schwulenparagrafen« aus der NS-Zeit ohne großen Widerspruch in der öffentlichen Debatte; die DDR führte die Weimarer Regelung wieder ein. Erst 1969 (in Ostdeutschland 1968) wurde der »175er« abgeschafft. Die im Vergleich zu Heterosexuellen höhere Altersgrenze bei homosexueller »Unzucht« galt in Westdeutschland allerdings noch bis 1994.

Schon während des deutschen Kaiserreichs hatte Hirschfeld, der selbst homosexuell war und lebte, seine »Zwischenstufentheorie« entwickelt. Mit dieser wollte er die Vielfalt sexueller Lebensweisen und Orientierungen dokumentieren – ein für die damalige Zeit geradezu revolutionärer Ansatz, der in gewisser Weise die heutige »Queer«-Debatte in der Geschlechterforschung vorwegnahm. Vor allem versuchte Hirschfeld immer wieder wissenschaftlich zu belegen, dass Homosexualität angeboren sei, also genetische Vordispositionen die gleichgeschlechtliche Orientierung festlegten. Mit dieser eher biologistischen Argumentation, die er gegen die immer stärker von ihm abgelehnte Psychoanalyse richtete, warb er für die Abschaffung des Paragrafen 175.

Rainer Herrns Buch dokumentiert in diesem Zusammenhang auch irritierende Details aus der Anfangszeit des Instituts. Etwa gab es dort Versuche, Homosexuelle zu kastrieren oder ihre sexuelle Orientierung durch die Implantation von Hoden zu verändern. Das klingt heute brutal, erinnert an spätere menschenverachtende medizinische Experimente in der Nazizeit – und ist tatsächlich nur im zeitgenössischen Kontext ansatzweise nachvollziehbar: An der Eugenik orientierte Konzepte waren damals auch in linken und liberalen Kreisen breit akzeptiert. »Unser retrospektiver Blick«, zitiert Herrn dazu den Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger, »ist ein Privileg«, doch sollte »kein billiger Nutzen aus der Droge des nachträglichen Besserwissens gezogen werden«.

Ein Rückschlag für die Sexualforschung

Politisch unterstützt wurde Hirschfelds Arbeit vor allem von sozialdemokratischen Abgeordneten und Ministerialbeamten. Auch er selbst stand der SPD nahe, einige seiner Mitarbeiter tendierten eher zur KPD. Die Gegner des Instituts standen meist im rechtsnationalen Lager oder waren Mitglieder der katholischen – und besonders sexualfeindlichen – Zentrumspartei. Die Einrichtung war ständigen öffentlichen Angriffen ausgesetzt, Hirschfeld galt als »jüdischer Propagandist« und avancierte spätestens Ende der 1920er Jahre zum stimmigen Feindbild der stärker werdenden Nazis.

Nach der Machtübertragung an die NSDAP wurde das Institut sofort geschlossen, seine Räume von rechtsradikalen studentischen Sturmtrupps geplündert. Die umfangreiche Bibliothek ging bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 in Flammen auf. Viele Mitarbeiter flohen ins Ausland, einige wurden verfolgt und später in Konzentrationslagern ermordet. Hirschfeld selbst starb 1935 an seinem 67. Geburtstag in Nizza im französischen Exil. Die deutsche Sexualwissenschaft brauchte lange, um sich von der Zerschlagung ihrer innovativen Forschungseinrichtung zu erholen.

Bis heute ist das Fachgebiet keineswegs selbstverständlich in die medizinischen Fakultäten und in die Ausbildungsgänge integriert. Federführend ist derzeit das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, in Ostdeutschland gibt es an der Hochschule Merseburg einen Schwerpunkt im Bereich der Sexualpädagogik. Rainer Herrn wünscht sich für die Zukunft ein eigenes Max-Planck-Institut, seiner Ansicht nach führt die Sexualforschung noch immer ein »Mauerblümchendasein«.

Magnus Hirschfeld enttabuisierte das in der Weimarer Zeit kaum öffentlich verhandelte Thema Sexualität. Weit über den Tod hinaus hatte er nachhaltigen Einfluss auf internationale Fachkreise. An seinen Vorarbeiten orientierte sich etwa der durch die »Kinsey-Reports« in den 1950er und 1960er Jahren bekannt gewordene US-amerikanische Sexualforscher Alfred Kinsey. Den Namen Hirschfelds trägt heute eine sexualwissenschaftliche Gesellschaft und in Berlin wurde eine Promenade am Ufer der Spree, in der Nähe des im Krieg vollständig zerstörten Institutsgebäudes, nach ihm benannt.

Rainer Herrn: Der Liebe und dem Leid. Das Institut für Sexualwissenschaft 1919–1933. Suhrkamp 2022, 680 Seiten, geb., 36 Euro.

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