- Berlin
- Klimaproteste
Kein richtiges Kleben im Falschen
Polizei und SPD fordern härteres Einschreiten gegen die Straßenblockaden der »Letzten Generation«
»Au, hören sie auf«, schreit die Aktivistin, während ein Mann in hellblauem Hemd, Lederschuhen und Sonnenbrille sie über den Asphalt an den Straßenrand schleift. Ein anderer Mann wirft einen Blockierer der Länge nach neben die Fahrbahn. Ein Video, das am Freitag auf Twitter die Runde macht und laut Beschreibung von einer Blockade-Aktion der »Letzten Generation« am 30. Juni stammt, zeigt Autofahrer, die sich den blockierten Fahrweg nicht gefallen lassen. Wieder und wieder ziehen sie an den Aktivist*innen herum. Ein pikantes Detail: Mehrere Polizist*innen stehen daneben und schreiten bei der offensichtlichen Gewaltanwendung nicht ein.
Ferat Koçak, klimapolitischer Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, bezeichnet diesen Vorfall als »inakzeptabel«. Dass die Polizei »gefährliche Selbstjustiz« toleriere und, wie eine andere Videoaufnahme zeigt, mutmaßlich Schmerzgriffe gegen Kinder einsetze, hält er für eine »Tendenz zur unangemessenen Kriminalisierung von demokratischen Protesten«.
Seit drei Wochen blockieren Aktivist*innen der klimapolitischen Gruppe »Letzte Generation« erneut Autobahnzufahrten, große Straßen und Kreuzungen in Berlin. Mit angeklebten Händen und Plakaten, die nach dem »Klimakanzler« fragen, fordern die Klimaschützer*innen: Die Bundesregierung solle geplante Ölbohrungen in der Nordsee absagen. Bisher ist die politische Entscheidungsebene nicht darauf eingegangen. Unkommentiert bleiben die Blockaden deshalb noch lange nicht. Dabei ging es in der vergangenen Woche weniger um aggressive Autofahrer*innen und unverhältnismäßige Polizeieinsätze, sondern um ein vermeintlich zu lasches Eingreifen durch den Staat.
Die Polizei hat zumindest die Nase voll. Benjamin Jendro, Sprecher der Berliner Gewerkschaft der Polizei (GdP), beschreibt gegenüber »nd« den Frust seiner Kolleg*innen. »Sie schreiben täglich 30, 40 Anzeigen und der Haftrichter lässt die Leute nicht einmal vorführen«, so Jendro. Die Aktivist*innen würden nicht präventiv in Gewahrsam kommen, weil die Richter*innen keine ausreichenden Beweise für eine Wiederholungsgefahr sähen. »Aber Fakt ist, dass wir bei den Aktionen fast immer auf dieselben Gesichter treffen.« Er hat den Eindruck, die Justiz würde bei den Blockaden weniger hart durchgreifen, »nur weil sie politisch en vogue sind«.
Nach dem Berliner Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz können Richter*innen einen präventiven Gewahrsam von bis zu 48 Stunden zustimmen, um die betreffenden Personen von einer schweren Straftat abzuhalten. Niklas Schrader, Innenexperte der Linksfraktion, betont das »schwer«. Denn er hält die möglichen Strafbestände bei einer Straßenblockade nicht für schwerwiegend genug, um einen Freiheitsentzug zu legitimieren. Allein die Forderung findet er problematisch: »Man kann nicht der Justiz vorschreiben, wie sie mit den Blockierern umzugehen hat. Das beschädigt den Rechtsstaat«, sagt Schrader zu »nd«.
Eine weitere Kritik, die von Jendro wie vonseiten der Politik kommt, betrifft die Strafverfolgung von Teilnehmer*innen früherer Blockadeaktionen. Denn bisher ist noch keines der 73 Ermittlungsverfahren zu Straßenblockaden Anfang des Jahres in einer Anklage gemündet. Einigen aus der Politik arbeitet die Justiz zu langsam: Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) betonte am Dienstag nach der Senatssitzung, dass es sich bei den Blockaden um Straftaten handele. »So sehr auch das Anliegen nachvollziehbar ist, so können wir nicht davon sprechen, dass der Zweck die Mittel heiligt«, sagte Giffey. »Das ist nicht in Ordnung, was da passiert, und das muss strafrechtlich verfolgt werden.« Innensenatorin Iris Spranger (SPD) stimmte mit ein: »Ich verurteile so etwas, und ich erwarte, dass die Justiz dann auch zu Verurteilungen kommt«, kommentierte sie die Protestaktionen.
Die Staatsanwaltschaft reagierte prompt. Auf Twitter zitierte der offizielle Account der Behörde am Mittwoch Generalstaatsanwältin Margarete Koppers: »Über den Anfangsverdacht, die Notwendigkeit und Intensität von Ermittlungen sowie die Anklagereife entscheidet die Staatsanwaltschaft, und zwar nach Recht und Gesetz und nicht nach politischen Wunschvorstellungen.« Oberstaatsanwalt Holger Brocke erklärte, dass zur rechtlichen Bewertung viele Details notwendig seien, die vor allem im Januar von den Polizist*innen nicht erfasst wurden. »Ihnen ging es zunächst darum, die Leute von der Straße zu holen.«
Das wiederum versteht Benjamin Jendro von der GdP als Angriff auf die Arbeit der Polizei. »Wenn die Staatsanwaltschaft schreibt, die Polizei habe schlampig gearbeitet, sollte sie vielleicht mal einen Staatsanwalt mit auf die Straße rausschicken«, sagt Jendro zu »nd«. Anstatt seinen Kolleg*innen zu sagen, wo besser nachgearbeitet werden müsse, sollten die Behörden mal besser zusammenarbeiten.
Doch selbst mit allen notwendigen Details ist die Strafbarkeit von Straßenblockaden umstritten. Lukas Theune arbeitet als Rechtsanwalt in Berlin mit Fokus auf Strafrecht. Die drei möglichen Straftatbestände bei einer Straßenblockade, nämlich Nötigung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und schwerer Eingriff in den Straßenverkehr, lassen sich in seinen Augen zumindest nicht eindeutig nachweisen.
Bei Nötigung geht es um Zwang, der allerdings mit einem physischen »Zwangsmittel« ausgeübt werden muss. »Die Blockierenden sind nur ein psychisch wirkendes Zwangsmittel«, so Theune zu »nd«. »Die Autofahrer möchten nicht über sie drüberfahren, aber sie könnten.« Zugleich komme aber die »Zweite-Reihe-Rechtsprechung« des Bundesgerichtshofs in Betracht: Demnach nutzen Aktivist*innen bei Straßenblockaden zwar nicht ihre Körper, aber die Autos in der ersten Reihe als »physische Zwangsmittel«, um damit die Fahrzeuge dahinter in einen Stau zu »nötigen«. Wenn die Autos in den hinteren Reihen dann für eine relevante Zeitspanne – laut Theune mindestens 15 Minuten – tatsächlich weder vor- noch zurückkommen, könnte das vor Gericht als Nötigung gelten.
Beim Strafbestand »Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte« sei laut Theune die entscheidende Frage, ob der Widerstand mit Gewalt verbunden war. »Ein passiver Widerstand ist nicht strafbar, nur, wenn man sich gegen das Wegtragen wehrt, ist es strafbar.« Ihm erscheinen die Aktivist*innen der »Letzten Generation« im Kontakt mit der Polizei aber friedlich und kooperativ. Zuletzt der »Schwere Eingriff in den Straßenverkehr«: »Das trifft allein deswegen meistens nicht zu, weil die Norm nur dann gilt, wenn ein Mensch oder eine Sache von bedeutendem Wert gefährdet ist«, erklärt Theune. Wenn sich die Blockierenden mit Warnwesten auf die Straße setzen, also eindeutig sichtbar sind, werde dadurch erst einmal niemand gefährdet.
»Deswegen liegt in vielen Fällen keine Strafbarkeit vor«, meint Theune. Er geht davon aus, dass nur ein Teil der Ermittlungsverfahren überhaupt zu einer Anklage führt. Im Falle eines Strafverfahrens müssten Richter*innen dann die Ziele und Motive der Angeklagten mit einbeziehen. Denn Straftaten, die aus einer Versammlung mit politischen Zielen hervorgingen, würden milder bestraft werden – komplett unabhängig vom Inhalt der Ziele. »Auch wenn Nazis die Autobahn blockieren, müsste deren Versammlungsfreiheit berücksichtigt werden«, so Theune.
Die Gruppe selbst fürchtet derweil keine Strafen. So stellt es zumindest Noemi Mundhaas, Sprecherin der »Letzten Generation«, dar. »Wir sind auch bereit, dafür ins Gefängnis zu gehen«, so Mundhaas zu »nd«. »Es ist die Entscheidung der Regierung, ob sie eine Forderung aus der Gesellschaft umsetzt oder uns für das Einfordern des Stopps neuer Nordseeöl-Bohrungen einsperrt.« Bei 92 Aktionen in den vergangenen drei Wochen wurden laut Mundhaas 290 Personen festgenommen und in Polizeigewahrsam gebracht. Selbst wenn auf manche der Festnahmen Anklagen und Verurteilungen folgen, hält Rechtsanwalt Theune Haftstrafen für unwahrscheinlich. Eine Verurteilung für mehrere Blockaden würde seiner Einschätzung nach zu Geldstrafen im vierstelligen Bereich führen – nur wer dann nicht zahlen kann, riskiert eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe.
Hat die »Letzte Generation« Geld für die Verfahrenskosten? »Sobald es zu Verfahren kommt, werden Spenden dafür gesammelt«, sagt Mundhaas. Sie hofft ohnehin, dass Richter*innen die Dringlichkeit des politischen Anliegens berücksichtigen und angeklagte Klimaschützer*innen freisprechen werden. Auf die Frage, wie sie die Rufe der Polizei und so mancher Politiker*innen nach vehementerem Einschreiten bewertet, reagiert sie perplex – es gehe der Gruppe nicht um Fragen der Repression. Es sei die Entscheidung der Medien, ob sie lieber über die juristischen Konsequenzen statt über »den Kollaps der Zivilisation« schreiben wollen. »Wir haben noch zwei, vielleicht drei Jahre, um das Schicksal der Menschheit zu entscheiden«, wiederholt sie den Satz, der zum Repertoire der Klimaschützer*innen gehört.
Neben der juristischen Einordnung stellt sich die Frage, wie politisch sinnvoll die Aktionsform für das Anliegen der Aktivist*innen ist. Mundhaas bemerkt, dass Medien immerhin mehr über die geplanten Ölbohrungen in der Nordsee berichten würden als zuvor. Niklas Schrader von der Linken befürchtet hingegen, dass durch die Aktionsform die Debatte um die Kriminalisierung den öffentlichen Diskurs bestimme. »Ich habe meine Zweifel, ob das der beste Weg ist, um die Ziele zu erreichen.« Aber unabhängig davon, ob sich Menschen nun von den Blockaden überzeugen ließen oder in Rage gerieten, aggressives Einschreiten von genervten Autofahrer*innen sei nie gerechtfertig. »Und ich finde es bedenklich, wenn dafür dann zu großes Verständnis von der Polizei geäußert wird.«
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