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Dr. Motte flattert wieder

Zehntausende Teilnehmer tanzen bei Neuauflage der Loveparade durch die Innenstadt

  • Sabrina Lösch
  • Lesedauer: 4 Min.

Der laut wummernde Bass lässt den Boden unter den Füßen vibrieren. Noch stehen die Umzugswagen, auch »Floats« genannt, still. Rund 200 000 Menschen sollen am Samstag gekommen sein, um »Rave the Planet« hautnah mitzuerleben. Die Polizei spricht lediglich von etwa 45 000 Teilnehmern.

Es ist die Neuauflage der einst weltbekannten Loveparade, die der Berliner DJ Dr. Motte im Juli 1989 ins Leben rief. Damals tanzten 150 Teilnehmer über die Straße, zehn Jahre später waren es 1,5 Millionen. Nach langem Streit über die im Tiergarten angerichteten Schäden und die Kosten der Müllentsorgung fand die letzte Berliner Loveparade 2006 statt. Ab 2007 gab es sie an wechselnden Orten im Ruhrgebiet, bis 2010 bei einer Massenpanik am viel zu engen Eingang in Duisburg 21 Menschen ums Leben kamen und 652 verletzt wurden.

»Wir sensibilisieren, fördern Offenheit und vernetzen Kulturschaffende, damit die elektronische Musikkultur sich weiter entfalten kann«, heißt es nun. Die Vision sei es, »dass Techno als Kulturform anerkannt«, erhalten, gefördert und geschützt wird. Außerdem soll die Berliner Clubkultur Teil des UNESCO-Weltkulturerbes werden. »Hier volltanken«, ist am Samstag auf einem mit Smileys bemalten Schild zu lesen. Daneben sticht ein schwarz gekleideter Mann auf einer bunt funkelnden eierförmigen Statue hervor. Er trägt eine Maske und hisst eine Flagge mit der Aufschrift eines Hamburger Clubs. Die Menschen stehen dicht an dicht auf dem Kurfürstendamm, einige tanzen bereits und versuchen, ihren Rhythmus zur ohrenbetäubend lauten Musik zu finden. Auf einem Schild steht in rosa Schrift unter einem Schallplattenspieler: »Es wird getanzt, was auf den Teller kommt.«

»Los jetzt«, schreit ein ordinär gekleideter Mann in einem kurzen ruhigen Moment. Viele Anwesende stimmen ein, beginnen zu jubeln und zu pfeifen. Die Menschen grölen sich in Rage. Wie bestellt setzen sich die Reifen des ersten Musikwagens im Schritttempo in Bewegung. Schrilles Kreischen, die Menge bebt vor Aufregung.

Die Menschen sind bunt gekleidet, abseits der Norm, das scheint der Standard zu sein. Eine junge Frau mit feuerrotem Haar tanzt, die Hände in die Luft gestreckt. Sie trägt eine giftgrüne Hose mit Schlangenoptik, dazu ein bunt gemustertes Oberteil und darüber eine beige glitzernde Jacke. Ihre Lippen sind schwarz geschminkt, die rechte Schläfe ziert eine gelb-pinke Bemalung mit bunten Glitzersteinchen. »Ich bin spontan hergekommen, weil mich ein Freund darauf angesprochen hatte. Ich hätte es sonst gar nicht mitbekommen«, sagt Vicky. Die 29-Jährige erzählt, dass sie vor etlichen Jahren auf einer Geburtstagsparty von Dr. Motte gearbeitet hat. Daher verstehe sie den »Spirit« der Veranstaltung. Darum habe sie sich so herausgeputzt.

Die erste Loveparade 1989 – Motto: »Friede, Freude, Eierkuchen« – fand bei Nieselregen statt. 33 Jahre später wiederholt sich die Techno-Parade am selben Ort unter, nun ja, ähnlichen Umständen. Kurzzeitig regnet es in Strömen, doch die Tausenden von Menschen lassen sich davon nicht die Stimmung verderben. Im Gegenteil: Regenschirme werden aufgespannt und als Accessoire in die Bewegungen integriert.

Die Parade zieht vom U-Bahnhof Uhlandstraße über den Kurfürstendamm zum Potsdamer Platz und vorbei am Brandenburger Tor. Das Ziel ist die Siegessäule – wie auch bei der allerersten Loveparade. Als Demonstration angemeldet, muss die Veranstaltung gesetzlich verpflichtend einen Redeanteil von mindestens 50 Prozent haben. Im Laufe des Tages stoppt die Musik vereinzelt zwischen den insgesamt 18 Musikwagen. Zwischendurch läuft eine vorgefertigte Aufnahme von Dr. Motte vom Band, die kaum zu verstehen ist. Insgesamt sieben Forderungen formulieren die Veranstalter auf der Homepage von »Rave the Planet«. Kommt die Botschaft auch in der Menge vor Ort an? Die 20-jährige Emilia weiß um das Bestreben der Veranstaltung und ist deshalb erschienen. »Davon gehört habe ich bisher aber eigentlich nicht«, sagt sie. Sie sei aber auch erst ein paar Stunden nach Beginn des Umzugs dazugestoßen.

Auch wenn die offiziellen Forderungen des als Demonstration angemeldeten Raves nach Förderung und Anerkennung der elektronischen Musik- und Tanzkultur harmlos klingen, bewegt sich der Umzug teils in einem politisch mindestens heiklen Umfeld. Das zeigt ein Video, das die Initiative Geradedenken am Sonntag beim Kurznachrichtendienst Twitter verbreitete. Darin hält Dr. Motte auf einem der Party-Wagen einen Sticker der sogenannten Freedom Parade hoch und macht dabei anbetende Verbeugungen. Das Logo, eine Kombination aus Herzen, Peace-Zeichen und Corona-Virus, stammt aus einer Szene von Impfgegner*innen und Pandemie-Leugner*innen mit ausgeprägtem Querfront- und Rechtsdrall. Der DJ twitterte daraufhin: »Ich wusste das nicht. Ich entschuldige mich.«

Warum Matthias Roeingh alias Dr. Motte ein ihm angeblich unbekanntes Motiv verehrungsvoll vor die Massen hielt, erklärt das Statement nicht. Mit viel Nachsicht ließe sich auf Roeinghs Überschwang verweisen. Die Veranstaltung »Rave the Planet« war im Sommer 2021 pandemiebedingt abgesagt worden, am Samstag fiel der Nachholtermin auf Matthias Roeinghs 62. Geburtstag.

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