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Mehrheit für eine Verfassungsrevision
Klarer Sieg der konservativen japanischen Regierungspartei bei den Parlamentswahlen
Wohl nie zuvor war eine Wahl in Japan von derart vielen Polizisten bewacht. Aber so kurz nach dem Mord an einem ehemaligen Regierungschef war auch kaum etwas Anderes zu erwarten als die Zurschaustellung von Sicherheit durch die Staatsmacht. Am Freitag war Ex-Premier Shinzo Abe, der das ostasiatische Land bis 2020 und länger als jeder andere Politiker regiert hatte, während einer Wahlkampfrede auf offener Straße erschossen worden. Japan ist im Schock- und Trauermodus.
Die Wahl des Oberhauses, der schwächeren der zwei japanischen Parlamentskammern, fand trotzdem statt. Alle drei Jahre wird hier je die Hälfte der 248 Sitze für sechs Jahre gewählt. Der Posten des Premierministers steht dabei nicht zur Debatte. So hätte man in dieser Wahl auf den ersten Blick eine solche erkennen können, die kaum derart wichtig wäre, dass man sie so kurz nach der Ermordung eines wichtigen Politikers nicht hätte verschieben können. Zumal Shinzo Abe weiterhin politisch aktiv, de facto gar der zweitwichtigste Politiker seines Landes war. Doch hätte man den Nationalisten Abe noch fragen können, ob diese Wahl wie geplant stattfinden solle, hätte er dies höchstwahrscheinlich bejaht. Denn am Sonntag ging es um entscheidende Mehrheiten für Projekte, die Abe zeitlebens eine Herzensangelegenheit waren: vor allem die Änderung der pazifistischen Nachkriegsverfassung, die Japan offiziell ein Militär und die Kriegsführung verbietet. Konservative halten dies vor allem in der heutigen Welt für anachronistisch.
Die Ergebnisse zeigen, dass diejenigen recht hatten, die sich gegen die Verschiebung der Wahl entschieden hatten: Die schon zuvor übermächtig regierende Liberaldemokratische Partei (LDP) um Premierminister Fumio Kishida hat eine satte Mehrheit gewonnen. Gemeinsam mit weiteren Parteien, die ähnliche Ziele verfolgen, reicht es sogar für eine Zweidrittelmehrheit im Oberhaus.
Die Folgen so eines Ergebnisses sind enorm: Da im Unterhaus bereits eine Zweidrittelmehrheit besteht, wäre damit der Weg zu einer Verfassungsrevision geebnet. Im ostasiatischen Land ist dies einerseits von großer Bedeutung, weil die seit 1947 gültige Verfassung wegen hoher Hürden noch nie umgeschrieben wurde. Andererseits nähert sich Japan nur Tage nach dem Tod von Shinzo Abe dessen Lebensziel um womöglich entscheidende Schritte. Mit Zweidrittelmehrheiten in den zwei Kammern bräuchte es dann noch ein erfolgreiches Referendum.
Seit Jahrzehnten ist die Verfassung eines der großen Streitthemen in Japan. Die Menschen im pazifistisch eingestellten Land haben sich in Umfragen meist gegen eine Änderung ausgesprochen, weil sie dies für nationalistisch oder bellizistisch halten. Die Befürworter einer Umschreibung aber betonen heutzutage, dass in Nachbarschaft eines aggressiv auftretenden Chinas und eines unberechenbaren Nordkoreas die Möglichkeiten zur nationalen Verteidigung neugedacht werden müssten.
Ist der klare Wahlsieg für das Lager, das eine Verfassungsrevision befürwortet, auch ein Beileids- oder Mitleidsvotum für den erschossenen Shinzo Abe? Takako Hikotani, Politikprofessorin an der Gakushuin Universität, sagte am Wahlabend: »Ich glaube, es ist klar, dass die sehr brutale Ermordung von Abe auch eine Auswirkung auf die Wahl hatte.« Und die führende LDP-Politikerin Sanae Takaichi kündigte: »Wir müssen jetzt Herrn Abes Willen weiterleben.«
Dabei war das Thema einer Verfassungsänderung in den Augen der Wählerinnen und Wähler längst nicht das wichtigste. Eine Umfrage des öffentlichen Rundfunksenders NHK ergab, dass nur fünf Prozent der Befragten die Verfassung und zwölf Prozent die nationale Sicherheit als Priorität sehen. Knapp die Hälfte finden dagegen die Wirtschaftspolitik am wichtigsten. Da die Reallöhne in Japan seit Jahren nicht gestiegen sind, macht insbesondere die auch hier gestiegene Inflation Sorgen.
Premierminister Fumio Kishida hat nun eine äußerst komfortable Mehrheit in beiden Parlamentskammern. So ist zu erwarten, dass er neben dem Versuch einer Verfassungsrevision das Budget für die Selbstverteidigungskräfte auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts anheben wird. Zur Bekämpfung hoher Strompreise wird er sich elfeinhalb Jahre nach der Atomkatastrophe in Fukushima wohl für einen verstärkten Wiedereinstieg in die Kernkraft einsetzen.
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