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  • Bürgerkrieg in Äthiopien

»Sie kollabieren vor Hunger am OP-Tisch«

Die Bewohner der äthiopischen Provinz Tigray verelenden im Bürgerkrieg zusehends

  • Melanie M. Klimmer
  • Lesedauer: 7 Min.

Professor Gebreselassie, behandeln Sie aktuell mehr Patienten in Ihrem Hospital als noch vor dem Bürgerkrieg?

Unser Hospital ist auf 500 Patienten ausgelegt. Seit Beginn des Bürgerkrieges bekommen wir so viele Patienten hinzu, dass wir aufstocken mussten. Zeitweise müssen Patienten auf den Korridoren untergebracht werden. Im Moment kümmern wir uns um doppelt so viele Patienten.

Interview


Prof. Dr. Kibrom Gebreselassie ist Herz- und Thorax-Chirurg und leitet das Ayder Hospital in Mekelle, der Provinzhauptstadt von Tigray, Äthiopien. Er berichtet von widrigen Umständen, unter denen medizinisches Personal in dem Krankenhaus arbeiten muss und unter denen die Patienten leiden. Mit ihm sprach Melanie M. Klimmer.

Haben Sie genug medizinisches Personal, um alle zu versorgen?

Die Zahl der Ärzte ist seit einem Jahr dramatisch gesunken. Einige, die für Spezialisierungen und Facharztweiterbildungen gekommen waren, sind in andere Landesteile zurückgekehrt. Die Gründe dafür sind vielfältig: Blackout des Kommunikationsnetzes, fehlender Zugang zu Bankkonten, ausbleibende Gehaltszahlungen oder drohender Hunger. Nun versuchen wir, die Situation mit dem Personal zu beherrschen, das uns zur Verfügung steht. Aktuell sind wir nur 136 medizinische Fachkräfte.

Ist es Ihnen und Ihrem Personal möglich, ausreichend zu essen und zu schlafen, um den Berufsalltag zu stemmen?

Unsere Mitarbeiter sind in großen Schwierigkeiten. Wir leiden unter Schlafmangel und Hunger, sind überarbeitet, haben weder Pausen noch Urlaub. Seit mehr als einem Jahr stehen unsere Gehaltszahlungen aus. Wir leben gänzlich von Spenden. Zu sehen, wie Ärzte unterschiedlicher Dienstgrade für die vom Internationalen Roten Kreuz (ICRC) gespendeten lebensrettenden Grundnahrungsmittel in der Schlange stehen, ist herzzerreißend. Kinder von Mitarbeitern werden wegen Unterernährung in unserem Hospital behandelt. Wir haben Mitarbeiter, die aufgrund von Hunger im OP-Saal während chirurgischer Eingriffe kollabieren. Andere müssen mit ihren Kindern in den Straßen von Mekelle betteln gehen. Ihre Familien waren zuvor noch wohlhabend und gut situiert gewesen und gewohnt, andere zu unterstützen.

Woher beziehen Sie im Moment die medizinische Ausrüstung?

Alles, was uns derzeit zur Verfügung steht, ist spendenfinanziert. ICRC, die Weltgesundheitsorganisation WHO und zu einem geringeren Maß World Vision helfen uns, Ausrüstung zu beschaffen.

Wie bringen Sie sich und Ihre Familie durch?

Was wir essen, reicht nicht zum Leben. Drei Mahlzeiten am Tag gehören der Vergangenheit an. Für die ärmsten Mitarbeiter haben wir »Lebensrettende Küchen« (Lisa Kitchen) eingerichtet. Dort erhalten sie, unterstützt von der deutschen Hilfsorganisation Etiopia-Witten e.V., eine Mahlzeit am Tag.

Wie schaffen Sie es, in all der Knappheit an Ressourcen den medizinischen Anforderungen noch gerecht zu werden: den Verletzten, mangelernährten Kindern, chronisch Kranken, Kriegstraumatisierten?

Unsere größte Herausforderung ist der Mangel an Strom und Treibstoff. Wir sind komplett von der Stromversorgung abgeschnitten und können nur noch Notfälle behandeln. Um ehrlich zu sein, kann es so nicht mehr lange weitergehen. Jeden Tag kämpfe ich um medizinische Ausrüstung und die Lebensmittelversorgung der Patienten. Weil Treibstoff fehlt, müssen Hospital-Mitarbeiter oft weite Strecken zu Fuß kommen, mit leerem Magen und – seit mehr als einem Jahr – ohne einen einzigen Penny in der Tasche. Die kriegsverletzten, vergewaltigten, unter Hunger leidenden Patienten trifft es noch härter: Sie kommen oft von weit her in der Hoffnung auf medizinische Hilfe, und wir können nicht einmal die simpelsten Laboruntersuchungen durchführen, weil uns die Reagenzien fehlen. Der Mangel an Nachschub macht radiologische Geräte, wie CT oder MRT, unbrauchbar, so dass wir keine radiologischen Dienste anbieten können. Unser Sauerstoff-Generator ist irreparabel. Besonders hart trifft es die chronisch Kranken.

Was sind die häufigsten Beschwerden und Diagnosen, wegen denen Frauen in das Ayder Hospital kommen?

Sexualisierte Gewalt ist der Hauptgrund, weshalb seit der Besetzung Tigrays durch eritreische Truppen, die Verteidigungskräfte der Zentralregierung und irregulären amharischen Fano-Banditen Frauen zu uns kommen. Wir haben bis heute täglich mit den Opfern zu tun, da die meisten von ihnen durch die Vergewaltigungen sexuell übertragbare Erkrankungen bekommen haben, ungewollt schwanger wurden oder seither an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden.
Eine andere Gruppe von Frauen, die zu uns ins Hospital kommt, sind Mütter mit komplizierten Schwangerschaften. Weil Hospitäler und Gesundheitszentren beim Überfall auf Tigray bewusst und ganz gezielt niedergebrannt oder zerstört wurden, haben schwangere Frauen keinen sicheren Zugang mehr zur Geburtshilfe. Dadurch kommt es häufig zu Komplikationen. So beobachten wir einen dramatischen Anstieg der Inzidenz für Geburtsfisteln (innere Quetschungsverletzung bei verzögertem Geburtsverlauf, bei der Verbindungen zu anderen Hohlorganen wie Blase oder Darm entstehen). Die Mütter- und Säuglingssterblichkeit sowie die Anzahl der Totgeburten nahmen signifikant zu.

Können Sie diesen Frauen helfen?

Wir tun alles, was in unserer Macht steht. Der Worldwide Fistula Fund, der von Dr. L. Lewis Wall geleitet wird, unterstützt uns dabei, das Notwendige zu tun.

Wie kommen Sie damit zurecht, wenn Sie Patienten nicht helfen können?

Wir haben täglich mit diesen Situationen zu tun. Zwei Jahrzehnte medizinischer Ausbildung und Praxis haben mich auf eine solch humanitäre Katastrophe nicht vorbereitet. Kein Arzt will jemals mitansehen müssen, wie die eigenen Patienten sterben – und was den Schmerz und die Not der Mitarbeiter noch verstärkt: Sie hätten das Wissen und alle Fähigkeiten, um diese Krankheiten zu behandeln. Sie haben aber nicht die Ausrüstung, das Notwendige zu tun. Es ist kaum zu ertragen, Krebspatienten zum Sterben nach Hause zu schicken, weil die nötige Chemotherapie nicht verfügbar ist, oder junge Dialysepatienten sterben sehen zu müssen, weil das Dialysebesteck nicht reichte. Es lässt dich einfach nicht mehr los, wenn du einem jungen Mädchen eine Gliedmaße amputieren musst, nur weil das geeignete Nahtmaterial fehlt, um das verletzte Blutgefäß zu verschließen.
Wir improvisieren. So haben wir damit begonnen, unsere Handschuhe zu waschen und dreimal wiederzuverwerten. Das Dialysebesteck nutzen wir bis zu zehnmal für denselben Patienten, obwohl der Hersteller nur den einmaligen Gebrauch empfiehlt.

Wie kommen Sie mit den furchtbaren Bildern im Kopf zurecht, dieser Hilflosigkeit?

Mein Fluchtmechanismus ist: Halte die Routinen aufrecht! Mir ist bewusst, dass das Problem menschengemacht ist und Kriminelle die Tigrayer auslöschen wollen. Klar ist mir auch, dass die Welt darüber Bescheid weiß, wie hier ein fortdauernder Genozid verübt wird. Sie hat aber offenbar ihren Kopf in den Sand gesteckt. Genauso weiß ich, dass da draußen wohlmeinende Menschen sind, die meinen Schmerz spüren können – unabhängig von Religion und Hautfarbe. Am wichtigsten ist mir jedoch der Glaube, dass mein unterdrücktes Volk am Ende gewinnen wird. Das hält mich am Leben. Hoffnung ist das Einzige, was mir geblieben ist.

Sprechen Sie mit ihren Mitarbeitern auch über die schrecklichen Ereignisse während der Überfälle auf das Ayder Hospital, die Vergewaltigungen an Personal, die von Soldaten begangen wurden?

Wir sprechen regelmäßig darüber. Wir wollen, dass nichts von alledem vergessen wird. Es muss alles auf den Tisch, erinnert und dokumentiert werden. Wir sagen auch, dass all diese Herausforderungen zeitlich begrenzt sind und eines Tages vorübergehen. Wir sprechen uns gegenseitig Mut zu. Wir sehnen uns nach dem Licht am Ende des Tunnels, wie weit weg es auch immer scheint.

Welche Momente gaben Ihnen Kraft und Vertrauen, all das zu überstehen, nicht aufzugeben oder zu fliehen, sondern für Ihre Patienten zu kämpfen?

Der Zusammenbruch der so mächtig scheinenden Regierungsarmee, die Tigray im vergangenen Jahr besetzt hielt, gab mir Kraft. Die Soldaten des einst so übermächtigen Militärs, das während der Ausgangssperren auf Sicht auf uns geschossen, unsere Schwestern vergewaltigt und ungestraft verstümmelt hat, werden am Ende Kriegsgefangene unserer Stadt sein. Weil die Straßen blockiert waren, konnten Patienten nicht zu uns durchdringen, Frauen mit einsetzenden Wehen konnten wegen der nächtlichen Ausgangssperren kein Gesundheitszentrum erreichen. Sollten die vielen Monate der Schreckensherrschaft sich plötzlich im Nichts auflösen, wird gewiss auch der Hunger vorbeigehen.

Welche Momente machen Ihnen noch Mut durchzuhalten?

Trotz meines Hungers und der schrecklichen Not, trotz der kompletten feindlichen Umzingelung, die danach trachtet, uns auszulöschen, macht es mir Hoffnung, von jemandem zu wissen, der völlig ohne Verbindung zu uns ist und in Tausenden Kilometern Entfernung lebt, sich für unsere Sache erhebt, für sie und unser Überleben kämpft. Die Humanität krankt zwar, aber sie ist nicht tot.

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