»Zu meinem Glück konnte ich schnell laufen«

Leichtathlet Mo Farah behält die britische Staatsbürgerschaft. Doch Tausende, die sein Schicksal teilen, sollen das Land bald verlassen müssen

Mo Farah gewann in London Olympiasiege und WM-Titel. Er wurde dafür gefeiert, litt innerlich aber daran, eine Lüge zu leben.
Mo Farah gewann in London Olympiasiege und WM-Titel. Er wurde dafür gefeiert, litt innerlich aber daran, eine Lüge zu leben.

Wenn an diesem Freitag die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Eugene beginnen, fehlen den Titelkämpfen die großen Stars: Jamaikas Laufikone Usain Bolt hat seine Karriere längst beendet. US-Jungstar Sha›Carri Richardson konnte sich bei den nationalen Ausscheidungen nicht qualifizieren. Und auch Rekordweltmeisterin Allyson Felix dürfte lediglich am Schlusswochenende in der 4×400-Meter-Staffel der USA eingesetzt werden. So kommt es, dass die Geschichte eines weiteren Weltstars derzeit das Topthema der Leichtathletik ist, obwohl auch er nicht in Eugene starten wird. Es ist die Geschichte von Mohamed »Mo« Farah – oder wie es nun vielleicht besser heißen muss: die Geschichte von Hussein Abdi Kahin.

Der vierfache Olympiasieger hatte stets behauptet, mit seiner Mutter als Achtjähriger aus Somalia nach Großbritannien eingereist zu sein. Der Vater sei schon dort gewesen. In der Schule wurde dann sein Talent fürs Langstreckenlaufen erkannt, Farah wurde eingebürgert und 2012 zum Publikumsliebling, als er bei den Olympischen Spielen in seiner neuen Heimat London Doppelolympiasieger über 5000 und 10 000 Meter wurde. Das Kunststück wiederholte er vier Jahre später in Rio de Janeiro noch einmal. Dazu gewann er sechs WM-Titel, ebenso oft wurde er zum britischen Sportler des Jahres gewählt. Dass er auch mit dem unter Dopingverdacht stehenden und heute gesperrten US-Trainer Alberto Salazar zusammenarbeitete, änderte kaum etwas an seiner Popularität. Die Geschichte vom Geflüchteten aus Afrika, der in England aufblüht und 2017 sogar zum Ritter geschlagen wurde, war für Medien und Öffentlichkeit einfach zu schön.

»Aber da gibt es etwas, das ihr nicht wisst. Ein Geheimnis, das ich seit meiner Kindheit mit mir herumtrage«, sagt der Spitzensportler in einer am Mittwoch erstmals ausgestrahlten BBC-Dokumentation. »Die meisten kennen mich als Mo Farah, aber das ist nicht mein Name. Das ist nicht die Realität. Ich wurde als Hussein Abdi Kahin geboren.« Es ist eine Nachricht, die große Wellen schlägt.

Sein Vater, der angeblich in London auf ihn gewartet hatte, war zu diesem Zeitpunkt längst tot. Der Farmer war Opfer des Bürgerkriegs in der Heimat geworden. Nach seinem Tod hatte die Familie nichts mehr: kein Vieh, kein Land, stattdessen jeden Tag Todesangst. Also schickte die Mutter Hussein und seinen Zwillingsbruder Hassan zum Onkel nach Dschibuti. Dort wurden die Beiden getrennt und Hussein von einer ihm unbekannten Frau mit gefälschten Papieren nach Großbritannien eingeschleust. Er bekam den Namen eines anderen Kindes verpasst: Mohamed Farah.

Er glaubte zunächst, er würde bei Verwandten unterkommen, doch die Frau nahm ihn in Hausknechtschaft, eine schwer zu erkennende Form moderner Sklaverei, weil sie hinter verschlossenen Türen geschieht. »Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war, dass ich nach Europa komme. Doch drei Monate später war ich am Tiefpunkt meines Lebens«, erklärt Farah in der Dokumentation »The Real Mo Farah«. »Wenn ich Essen haben wollte, musste ich mich um ihre Kinder kümmern. Ich musste sie füttern, duschen, für sie sauber machen. Die Frau sagte immer wieder: Wenn du deine Familie je wiedersehen willst, sag nichts! Sonst schließen sie dich weg.«

Also schwieg Farah, bis er es nicht mehr konnte: »Ich hatte Angst, doch ich brauchte Hilfe. Ich hab mich jeden Tag im Badezimmer eingeschlossen und geweint. Ich musste da raus«, erzählt er. Also öffnete er sich gegenüber seinem Sportlehrer. Der meldete den Fall dem Jugendamt, das also wusste, dass Mohamed Farah nicht so hieß. Zunächst aber brachten sie den Jungen lediglich in einer anderen somalischen Familie unter. Danach ging es ihm besser. Ansonsten befasste sich aber niemand mit dem, was dahinter steckte. Mohamed blieb »Mo« Farah und gewann bald nationale Jugendrennen mit mehr als 30 Sekunden Vorsprung.

Ein paar Jahre später sollte er England bei internationalen Meisterschaften vertreten, also halfen ihm Lehrer und Behörden dabei, die britische Staatsbürgerschaft zu bekommen – immer noch als Mohamed Farah. Seinen richtigen Namen hatten alle außer dem Jungen längst wieder vergessen, und im Sommer 2000 wurde er offiziell Brite.

Erst seine heutige Ehefrau Tania Nell erkannte, dass etwas nicht stimmte, dass Farah etwas verschwieg, und sie bohrte nach. Jetzt, mit 39, zum Ende seiner Karriere, in der Farah nur noch Marathons läuft, fasste er den Entschluss, an die Öffentlichkeit zu gehen: »Ich muss meine wahre Geschichte erzählen. Ich will mich endlich normal fühlen, was immer mich das kosten mag.« Der Schritt war tatsächlich nicht risikofrei, denn seine Einbürgerung basierte auf gefälschten Daten. Farah hätte seine Staatsbürgerschaft verlieren können. Das Innenministerium aber signalisierte sofort, dass es »keine Schritte gegen Sir Mo« unternehmen würde. Der öffentliche Aufschrei wäre wohl auch zu groß gewesen.

Doch was, wenn Mo Farah kein Wunderläufer wäre, sondern nur ein einfacher Migrant? Allein im vergangenen Jahr wurden mehr als 10 000 potenzielle Opfer von Menschenhandel in Großbritannien identifiziert, wird er im Film von einer Menschrechtsaktivistin aufgeklärt. Die Dunkelziffer liege sogar beim Zehnfachen dessen. »Ich hatte keine Ahnung, dass so viele Menschen genau das Gleiche durchgemacht haben wie ich. Das zeigt nur, wie viel Glück ich hatte. Was mich rettete, was mich von anderen unterschied, war, dass ich schnell laufen konnte«, sagt Farah.

Die allermeisten anderen haben weniger Glück. Also schweigen sie, meist ihr Leben lang. Wer mit gefälschten Papieren erwischt wird und bei der Einreise volljährig war, verliert Asyl oder eine schon ausgestellte Staatsbürgerschaft. Die konservative Regierung vom nun zurückgetretenen Premierminister Boris Johnson plant sogar ein Gesetz, mit dem man Opfer von Menschenhandel und andere Einwanderer aus Asien und Afrika ins 6500 Kilometer entfernte Ruanda abschieben will, so dass sie dort einen Asylantrag stellen. Offiziell will die Regierung damit den Anreiz für lebensgefährliche Reisen über den Ärmelkanal verringern und Kosten für die Unterbringung von Asylsuchenden senken. Doch es ist offensichtlich ein Versuch, die eigenen Wähler von den Problemen in der Regierung Johnson abzulenken – auf dem Rücken von Menschen, die sich kaum wehren können. Für den fragwürdigen Deal, der die Asylpolitik vieler Staaten verändern könnte, hat Ruanda bereits 120 Millionen Pfund (etwa 142 Millionen Euro) eingesackt. Lediglich ein Erlass des Europäischen Menschengerichtshofs (EGMR) stoppte im Juni den ersten Flug.

Innenministerin Priti Patel verschärfte erst in diesem Jahr das Asylrecht, auch wenn es die schlimmsten Auswüchse des Gesetzentwurfs nicht durchs Parlament schafften. So wollte die Regierung ursprünglich Opfern von moderner Sklaverei wie Farah Unterstützungsleistungen entziehen, wenn sie zu spät darüber berichten oder kriminell geworden sind. Es war auch im Gespräch, Asylanträge grundsätzlich nicht zuzulassen, wenn Immigranten auf »irregulären Wegen« ins Land kommen. An den Asylflügen nach Ruanda will Patel aber festhalten und lässt dafür rechtliche Schritte gegen das Urteil des EGMR prüfen.

Mo Farah, der diesen Namen weiter tragen wird, will mit seiner Geschichte auch diese Debatte beeinflussen, den öffentlichen Blick auf die Einzelschicksale von Geflüchteten und Opfern von Menschenhändlern richten. Dafür bekam er dieser Tage über soziale Medien von Politikern, Journalisten, Sportlerkollegen, Künstlern und Flüchtlingsorganisationen viel Lob zugesprochen. »Es ist unglaublich, so viel Unterstützung von so vielen Leuten zu bekommen«, freute sich Farah, der im Oktober wieder beim London-Marathon antreten will.

Er selbst hat mittlerweile wieder Kontakt zu seiner Mutter. Auch die Geschwister haben den Krieg in Somalia überlebt. Den Grund dafür, warum er nach England kam, hat er aber immer noch nicht gefunden. Die Frau, die ihn damals mitnahm, hat ein Interview mit der BBC abgelehnt. »Das Schwierigste ist, mir einzugestehen, dass jemand aus meiner Familie mit meinem Menschenhandel zu tun gehabt haben könnte«, sagt Farah, der auch seinen Onkel in Dschibuti nicht mehr wiederfand, um ihn zu befragen. Scotland Yard will Ermittlungen in seinem Fall einleiten, hieß es am Mittwoch. »Ich selbst habe keinen Kontakt mehr zu der Frau«, sagt Farah. »Und den will ich auch nicht.« Wer kann es ihm verdenken?

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