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Abstraktion herrscht
Wieder einmal wird über Wissenschaftsfreiheit debattiert. Die Diskussion verspricht dabei vor allem eins: dass alles so schlimm bleibt, wie es ist.
In der aktuellen Gemengelage ist es äußerst schwierig, sich nicht dumm machen zu lassen. Gesellschaftliche Spaltung, Kritikunfähigkeit der Linken (über die sich Peter Nowak letzte Woche an dieser Stelle beschwerte), das Ende der Freiheit: drunter macht es keiner mehr. Alles wird zum Schicksalsmoment erklärt. Vielleicht drückt sich darin der Wunsch nach Bedeutsamkeit – also narzisstischer Kränkung – aus, vielleicht ist es die Sehnsucht, angesichts der Ohnmacht eines drohenden Weltuntergangs wenigstens irgendeinen Kampf führen zu können. In jedem Fall aber geht es an den eigentlichen Problemen vorbei.
Als zuletzt eine Doktorandin der Biologie, die an der Humboldt-Universität über die Natur der Zweigeschlechtlichkeit referieren sollte, für ihre politische Transfeindlichkeit kritisiert und ihr Vortrag abgesagt worden war, ging es auch schnell ums ganz Große: Cancel Culture, Wissenschaftsfreiheit, das Schicksal der Aufklärung. Die unter Druck geratene HU folgte dem Übersprung aufs Allgemeine. Sie holte den Vortrag am Donnerstag nach und suchte die Meta-Diskussion. Unter dem Titel »Meinung, Freiheit, Wissenschaft« diskutierten der Uni-Präsident und die Bundesforschungsministerin mit fünf weiteren Expert*innen im Fishbowl-Format, damit dieses Mal wirklich alle zu Wort kommen würden. Gerade weil es nur darum ging, lässt sich die Veranstaltung ähnlich bewerten, wie der Philosoph Slavoj Žižek Filme rezensiert: Man muss sie nicht gesehen haben, um zu wissen, dass da Ideologie drinsteckt.
Was? Ideologie? Aber es geht doch bei solchen Veranstaltungen genau darum, die Ideolog*innen abzuwehren und die Offenheit der Debatte vor falschen Wahrheitsansprüchen zu schützen. Und ist das nicht im Kleinen schon die ganz große Frage, wie man eigentlich in einer Demokratie zusammenlebt? Da auch hier das Besondere immer gleich für ein Allgemeines herhalten muss, bleibt die Auseinandersetzung abstrakt. Und genau diese falsche Verallgemeinerung hat auch ideologischen Gehalt.
Es ist relativ deutlich als Ideologie erkennbar, wenn die gecancelte Doktorandin ihr transphobes Weltbild als wissenschaftliche Fakten durchsetzen will. Aber dem steht der fröhliche Pluralismus der Uni-Leitung ohnmächtig gegenüber. Dieser ist ja selbst bloß die Abstraktion, dass es nur eine Meinung unter unendlich vielen sei, die darin gleichwertig sind, dass keine von ihnen Anspruch auf Wahrheit habe. Dieser Logik erscheinen Gedanken und Meinungen wie Waren auf einem Markt, die beliebig zu tauschen und auszutauschen sind, und zwar weil sie eben keinen konkreten Unterschied machen.
Dass es keinen Unterschied macht, das beschreibt ja ganz gut das Gefühl der Ermüdung und Resignation, wenn die hundertste Debatte über Cancel Culture durch die Medien rollt. Die Empörung, Polarisierung, der Skandal – es kann alles nur noch notdürftig darüber hinwegtäuschen, dass es gar nicht wirklich um etwas geht. Die Logik der falschen Verallgemeinerung hat sich bereits verselbständigt. Dabei ist es natürlich kein Zufall, dass diese Logik der Grundstruktur jener warenproduzierenden Tauschgesellschaft ähnelt, die wir Kapitalismus nennen. Für den Tausch ist die Abstraktion vom Gebrauchswert die erste Bedingung. Die abstrakten Debatten haben daher ihren Anteil daran, dass alles so bleibt, wie es ist. Sie gehören zu jener abstrakten Herrschaft, welche uns die Ohnmacht erst einbrockt, die wir mit Skandal und Superlativ kompensieren.
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