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Klassenkampf statt Burgfrieden

Die sozialistische Antwort auf den Ersten Weltkrieg hieß revolutionärer Defätismus. Rückblick auf ein in Vergessenheit geratenes Konzept

  • Axel Berger
  • Lesedauer: 14 Min.
Ein Krieg müsse mit allen Mitteln verhindert werden, lautete die Losung des Internationalen Sozialistenkongresses 1907 in Stuttgart: Rosa Luxemburg berichtet hier auf einem politischen Treffen vom Kongress.
Ein Krieg müsse mit allen Mitteln verhindert werden, lautete die Losung des Internationalen Sozialistenkongresses 1907 in Stuttgart: Rosa Luxemburg berichtet hier auf einem politischen Treffen vom Kongress.

Auf das, was kam, konnte vermutlich niemand wirklich vorbereitet sein. Auch die revolutionären Sozialist*innen, die seit Jahrzehnten vor den 1914 beginnenden Gemetzeln des Ersten Weltkrieges gewarnt hatten, standen den neuen Realitäten zunächst weitgehend desorientiert gegenüber. Nicht nur, dass die Gewerkschaften und Arbeiterparteien in Europa fast geschlossen ihre jeweiligen Regierungen und deren Kriegspolitik stützten. Fassungslos berichtete etwa Leo Trotzki aus Wien, wie sich auf den Straßen auch »die Unterdrückten, vom Leben Betrogenen mit den Reichen und Mächtigen auf gleichem Fuße« wähnten, begeistert nationalistische Lieder grölten und nach Waffen gegen den äußeren Feind verlangten.

Nicht anders waren die Eindrücke der Genoss*innen in Paris, Berlin, Petrograd und vielen anderen Städten Europas. Noch kurz vor seiner Ermordung zog Trotzki im Jahre 1940 in einem seiner letzten Aufsätze und im Angesicht eines erneuten Weltkrieges eine verheerende Bilanz dieser Zeiten. »Während des letzten Krieges«, schrieb er in »Bonapartismus, Faschismus und Krieg«, »war nicht nur das Proletariat als ganzes (sic!), sondern auch seine Avantgarde und – in gewissem Sinne – die Avantgarde dieser Avantgarde unvorbereitet«. Denn die »Ausarbeitung der Prinzipien einer revolutionären Politik gegenüber dem Kriege« habe erst zu einer Zeit begonnen, »als der Krieg schon voll entbrannt war und der Militärapparat unumschränkte Herrschaft ausübte«.

Ein Weltkrieg ungeahnten Ausmaßes

Auf den ersten Blick musste diese weitgehend desolate Vorbereitung verwundern. Denn immerhin besaßen die zeitgenössischen Sozialist*innen mit ihrer Internationale eine über die nationalen Grenzen hinausweisende Organisation, in der sich die angeschlossenen sozialdemokratischen Parteien, deren Aufschwung zudem in fast allen Ländern unaufhaltbar zu sein schien, längst darüber verständigt hatten, wie mit dem zu erwartenden Flächenbrand umzugehen sein würde. Schon Friedrich Engels, der maßgeblich an der Gründung dieser Zweiten Internationale im Jahr 1889 beteiligt war, hatte dabei die Richtung vorgegeben. Wenige Jahre zuvor hatten er und sein Freund Karl Marx noch die jeweils Kriegsführenden vor allem danach beurteilt, ob deren Siege zur weiteren Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise samt republikanisch-demokratischer Ordnungen würden beitragen können – sie unterstützten etwa die Union im amerikanischen Bürgerkrieg gegen die konföderierten Südstaaten ebenso wie in Europa die Gegner des »zaristischen Despotismus« in Russland. Aber seit der Zusammenarbeit französischer und preußisch-deutscher Truppen bei der Niederschlagung der Pariser Commune 1871 galt ihnen der Militarismus der nunmehr als kapitalistische Nationalstaaten formierten Großmächte unisono als reaktionär und antirevolutionär.

Im Jahr 1888, immerhin noch pünktlich vor der Gründung der Sozialistischen Internationale, formulierte Engels diese Perspektive in seinem Vorwort zu einer Broschüre seines langjährigen Genossen Sigismund Borkheim über die beginnende deutsche Nationalbewegung im frühen 19. Jahrhundert. Aufgrund der Konkurrenz der Großmächte und der fehlenden Expansionsmöglichkeiten Preußen-Deutschlands erwartete der »General« in naher Zukunft einen »Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit«. Die Einlassungen Engels lesen sich auch heute noch wie eine Zusammenfassung der folgenden Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts: »Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, daß die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt«, so das düstere Szenario des greisen Revolutionärs. Der ihm eigene Optimismus aber blieb. Denn über das Resultat dieser Tragödie war er sich ebenso sicher wie über die kommende Barbarei: »Unvermeidlich« sei angesichts dieses Bankrotts der bürgerlichen Gesellschaft der endgültige »Sieg des Proletariats«, schloss Engels.

Für die nunmehr halbwegs konsolidierte Arbeiter*innenbewegung lag es nahe, diesen Siegeszug abzukürzen und den Völkern Europas und der gesamten Welt den Mord- und Totschlag eines industriellen Krieges zu ersparen. »Droht der Ausbruch eines Krieges«, hieß es so in dem einstimmig angenommenen Beschluss des in Stuttgart tagenden Internationalen Sozialistenkongresses von 1907, auf dem die drohende Kriegsgefahr erstmals deutlich wahrgenommen wurde, »so sind in den beteiligten Ländern die Arbeiter und ihre parlamentarischen Vertreter verpflichtet, alles aufzubieten, um durch Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern oder, falls ein solcher dennoch ausbrechen sollte, für seine rasche Beendigung einzutreten.« Zwar konnten hier die deutschen Delegierten aus Angst vor Verbot und Verfolgung die weitergehende Formulierung abwenden, dass im Falle eines Kriegsausbruchs mit Generalstreiks und Aufständen der Kriegsfortschritt der eigenen Seite zu sabotieren wäre. Die Linken um Lenin und Rosa Luxemburg aber erreichten immerhin die Festlegung darauf, dass in diesem Falle unbedingt »die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen« sei. Und diese Manifestation antimilitaristischen Willens wurde auch auf den folgenden Konferenzen, 1910 in Kopenhagen und 1912 in Basel, jeweils einstimmig bestätigt.

Krieg und Vaterlandsverteidigung

Dass es anders kam, ist bekannt: Am 4. August 1914 stimmten die Reichstagsabgeordneten der deutschen SPD geschlossen der Bewilligung von Kriegskrediten und damit dem Krieg zu. Ihnen folgten die französischen Sozialisten, die, wie ihre Genoss*innen in Belgien, zudem noch Aufnahme in die Regierung der nationalen Einheit fanden. Und in Russland propagierten der »Vater des russischen Marxismus« (Lenin), Georgi Plechanow, und sein anarchistisches Pendant, Peter Kropotkin, die »Verteidigung des Vaterlandes«, ebenso wie die von Trotzki beobachteten Genoss*innen im Habsburgerreich oder jenseits des Ärmelkanals. Nichts konnte mehr darüber hinwegtäuschen, dass der Internationalismus und mit ihm die Internationale – ihr für August anberaumter Kongress in Wien hatte unter diesen Umständen natürlich nicht mehr stattfinden können – Geschichte war. Da halfen auch die absonderlichsten Interpretationen nicht mehr. »Alle haben das gleiche Recht oder die gleiche Pflicht, ihr Vaterland zu verteidigen; der wahre Internationalismus besteht in der Anerkennung dieses Rechts für die Sozialdemokraten aller Nationen, darunter auch derjenigen, die mit meiner Nation Krieg führen«, suchte etwa der international prominenteste Theoretiker der Sozialdemokratie, Karl Kautsky, noch im Oktober in einem Artikel für »Die Neue Zeit«, dem Theorieorgan der SPD, zu erklären. Wahrer Internationalismus konnte aus der Sicht führender Sozialdemokraten also demnach lediglich noch in der gleichberechtigten Anerkennung gegenseitigen Abschlachtens bestehen.

Andere waren ehrlicher. Knapp ein Jahr nach Kriegsbeginn erschien in ungewöhnlich hoher Auflage ein umfangreiches Buch unter dem Titel »Die Arbeiterschaft im neuen Deutschland«. Herausgegeben worden war es gemeinsam vom Vorsitzenden der Generalkommission der Gewerkschaften, Carl Legien, und dem der SPD nahestehenden Historiker Friedrich Thimme. Darin entwarfen führende Sozialdemokraten das Bild einer Nachkriegsgesellschaft, in der die Arbeiter*innenklasse vollständig in den nationalen Staat integriert und anerkannt sein sollte. Der Klassenkampf sollte dann der »Volksgemeinschaft« gewichen sein, wie etwa der spätere Reichswehrminister und »Bluthund« bei der Niederschlagung der auf den Krieg folgenden Revolution, Gustav Noske, ausführte. Insbesondere im Krieg ginge es für die Arbeiterschaft darum, »mit restloser Hingabe von Kraft, Gut und Blut nach Möglichkeit Volk und Vaterland vor Schaden zu bewahren«. Und der spätere erste Regierungschef der Weimarer Republik, Philipp Scheidemann, entdeckte in Krieg und Sozialismus gar das gemeinsame Anliegen, die »gesamte Arbeitsleistung des Volkes mit ordnender, geistiger Kraft zu durchdringen und ihren Ertrag so zum Wohle der Gesamtheit zum höchsten Grade zu steigern«.

Dazu gehörte unbedingt auch die Zustimmung zur Annexionspolitik und damit zu den überaus offensiven Zielen der Reichsregierung durch die Mehrheit der SPD-Abgeordneten. »Durchaus unrichtig wäre es«, schrieb etwa der angesehene SPD-Abgeordnete Max Cohen 1916 in seiner Kriegspropagandaschrift »Das Volk und der Krieg«, »Eroberungen aus sozialistischen Grundsätzen von vornherein abzulehnen«, könnte doch so der allgemeine Lebensstandard auch der »unteren Schichten der Bevölkerung« angehoben werden. Dass diese Extraprofite auf Kosten der Arbeiter*innen anderer Länder erzielt würden, zählte da im nationalen Taumel schon nicht mehr.

Gegen Regierungen und Bourgeoisie

Demgegenüber waren es lediglich winzige Minderheiten in oder auch schon jenseits der offiziellen Arbeiterparteien, die sich verzweifelt dem Kurs entgegenstemmten. Unter ihnen verfügten lediglich die russischen Bolschewiki zunächst über eine halbwegs funktionierende Organisation. Aus dem Exil in Bern war es deren Vorsitzender und wichtigster Theoretiker, Lenin, der sofort fieberhaft begann, die internationalistischen und revolutionären Positionen zu verteidigen. Bereits Anfang September legte er ein kurzes Thesenpapier unter dem Titel »Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im europäischen Kriege« vor, das international verbreitet wurde. Darin wurden die Grundsätze des revolutionären Defätismus erstmalig grob formuliert, die in den folgenden Jahren von den radikalen Linken in Broschüren, Artikeln, Reden oder Flugschriften tausendfach verbreitet wurden.

Lenin geißelte nicht einfach, wie einige pazifistische Kritiker*innen, den »Verrat am Sozialismus« durch die wichtigsten sozialdemokratischen Parteien. Er ging davon aus, dass es sich um einen imperialistischen Krieg von allen Seiten handele, in dem »im Interesse der Bourgeoisie die Lohnsklaven der einen Nation gegen die Lohnsklaven der anderen Nation« gehetzt würden. Daher forderte er, dass die Sozialist*innen den Kampf »gegen die reaktionären und bürgerlichen Regierungen und Parteien in allen Ländern« entfachen und den Krieg in einen Bürgerkrieg für den internationalen Sozialismus und die Vereinigung der Proletarier aller Länder umwandeln müssten.

Auch für eine Vaterlandsverteidigung, wie sie die von nun an »Sozialchauvinisten« genannten Sozialdemokraten vehement einforderten, war hier kein Platz mehr vorgesehen. Im Gegenteil: Die Niederlage der nationalen herrschenden Klassen sollte überall durch die Arbeiter*innen forciert werden, stand doch der Hauptfeind konkret zwar im jeweils eigenen Land, im Prinzip aber in allen Ländern in gleichem Maße. Eine weitere Absage erteilte Lenin den seit der gescheiterten Herbstoffensive und dem Einsetzen des Stellungskriegs populärer werdenden Forderungen nach einem »Frieden ohne Annexionen«, wie sie die zentristischen Sozialdemokraten, in Deutschland etwa die Protagonist*innen der späteren USPD, vertraten. Weil in der imperialistischen Epoche des Kapitalismus die Expansion für die Großmächte notwendig wäre, würde, so Lenin, jeder kapitalistische Frieden nur wieder den Auftakt zu neuen Revanchegelüsten und Kriegen bilden müssen. »Wer einen dauerhaften und demokratischen Frieden will, der muss für den Bürgerkrieg gegen die Regierungen und die Bourgeoisie sein«, folgerte er zu Beginn des Jahres 1915.

In den Blick rückte damit aber auch der organisatorische Bruch mit den »Vaterlandsverteidigern«, der in Russland seit Anfang des Jahrhunderts bereits faktisch vollzogen war, auch wenn sowohl menschewistische Reformisten und bolschewistische Revolutionäre weiterhin für sich reklamierten, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) zu repräsentieren. Auch wenn es in den ersten Jahren des Krieges um die Erfolgsaussichten der Umsetzung dieses Programms nicht gerade rosig aussah, würde dies ohne eine eigenständige Formierung der revolutionären Kräfte, davon waren die Radikalen überzeugt, auch langfristig blockiert bleiben. »Wird diese Situation lange anhalten«, schrieb Lenin im Frühjahr 1915 in seiner Schrift »Der Zusammenbruch der II. Internationale«, »und wie weit wird sie sich noch verschärfen? Wird sie zur Revolution führen? Das wissen wir nicht, und niemand kann das wissen. Das wird nur die Erfahrung lehren, die uns zeigt, wie sich die revolutionären Stimmungen entwickeln und wie die fortgeschrittenste Klasse, das Proletariat, zu revolutionären Aktionen übergeht.« Ohne eine revolutionäre und international organisierte Avantgarde dieser Klasse, darauf hatte Lenin seit Beginn des Jahrhunderts und dem Erscheinen seiner Schrift »Was tun?« immer wieder hingewiesen, sei damit aber kaum zu rechnen.

Zimmerwalder Linke

Einen ersten Schritt dahin sollte die vom 5. bis 8. September 1915 einberufene Zimmerwalder Konferenz oppositioneller Sozialdemokraten, vorbereitet vor allem von dem Schweizer Robert Grimm, darstellen. Lediglich 38 Delegierte aber fanden sich, als Ornithologen getarnt, letztlich in dem kleinen Ort in der Nähe von Bern ein. Den britischen Delegierten war die Ausreise genauso verwehrt worden wie dem populärsten Kriegsgegner Europas. Denn Karl Liebknecht, der am 2. Dezember 1914 als einziger Abgeordneter im Reichstag gegen die Kriegskredite gestimmt hatte, war zum Militärdienst eingezogen worden. Und den wenigen Anwesenden war klar, dass die meisten von ihnen lediglich winzige Grüppchen oder auch nur sich selbst repräsentierten. »Die Delegierten scherzten selbst darüber«, schilderte der ebenfalls anwesende Trotzki später in seiner Autobiographie, »daß es ein halbes Jahrhundert nach Begründung der Ersten Internationale möglich war, alle Internationalisten in vier Wagen unterzubringen«.

Auch dort aber blieben die von diesem Zeitpunkt an als »Zimmerwalder Linke« firmierenden Revolutionäre zunächst in der Minderheit. Zwar wies der an die Konferenz gerichtete Brief Liebknechts mit der Aufforderung: »Burgkrieg, nicht Burgfrieden« in die gleiche Richtung wie die von dem polnisch-deutschen Revolutionär Karl Radek gemeinsam mit Lenin und Grigori Sinowjew eingebrachte Resolution. Die Mehrheit der deutschen, französischen, skandinavischen und schweizer Vertreter war aber letztlich für einen Bruch mit den sozialdemokratischen Parteien nicht zu haben. So rief zwar das von Trotzki als Kompromiss formulierte Manifest die Arbeiter*innen Europas zum Kampf für den Sozialismus und gegen die »herrschenden Gewalten der kapitalistischen Gesellschaft« auf, im Zentrum aber stand die Forderung nach einem »Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen«.

In dem oben bereits zitierten Aufsatz von 1940 resümierte Trotzki das Ergebnis folgendermaßen: »Ein Jahr nach Kriegsausbruch war die kleine revolutionäre Minderheit noch gezwungen, sich auf der Zimmerwalder Konferenz einer zentristischen Mehrheit anzupassen. Vor und selbst nach der Februarrevolution fühlten sich die revolutionären Elemente nicht als Kämpfer um die Macht, sondern nur als extreme linke Opposition. Selbst Lenin verlegte die sozialistische Revolution in eine mehr oder weniger entfernte Zukunft. Er schrieb (1915 oder 1916) in der Schweiz: ›Wir, die Alten, werden vielleicht die entscheidenden Kämpfe dieser kommenden Revolution nicht erleben‹«.

Auch das sollte sich aber wiederum als Fehleinschätzung erweisen. Die Linke, aus der sich die Kerne der späteren Kommunistischen Internationale rekrutieren sollten, gewann in der Folge in fast allen Ländern Europas zunehmend Personen und Gruppen für ihre Positionen – in Deutschland etwa die von Bremen ins gesamte Reichsgebiet ausstrahlenden Linksradikalen, in Holland die bereits von der Sozialistischen Partei verstoßene Gruppe um die Zeitschrift »De Tribune«, die sozialistischen Jugendverbände in Schweden und Norwegen, in Italien die Gruppen um die von Amadeo Bordiga herausgegebene Zeitschrift »Il Socialista« und im Osten Europas teilweise Mehrheiten in den sozialistischen Parteien. Vor allem aber spielten ihnen die Zeitläufe des Krieges selbst in die Hände. Die Barbarei der Abnutzungsschlachten und Stellungskriege sowie die immer schlechteren Versorgungen an den Heimatfronten ließen nicht nur die anfängliche Begeisterung bei vielen Menschen ins Bodenlose sinken, sondern auch den Hass auf die Herrschenden wachsen. In ihrer Broschüre »Die Krise der Sozialdemokratie« zeichnete Rosa Luxemburg 1916 diese Kriegsmüdigkeit polemisch nach: »Vorbei ist der Rausch«, heißt es dort. »Die Reservistenzüge werden nicht mehr vom lauten Jubel der nachstürzenden Jungfrauen begleitet, sie grüßen nicht mehr das Volk aus den Wagenfenstern mit freudigem Lächeln. […] Das im August, im September verladene und patriotisch angehauchte Kanonenfutter verwest in Belgien, in den Vogesen, in den Masuren in Totenäckern, auf denen der Profit mächtig in die Halme schießt.«

Und so waren es letzten Endes doch die ausbrechenden Revolutionen, vor allem in Russland und Deutschland, und die Aufstände der Arbeiter*innen überall in Europa, die das Ende des Krieges einläuteten. So konnte Lenin bereits nach der russischen Februarrevolution von 1917, als er die Rückreise nach Russland endlich antreten konnte, in seinem »Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter« zufrieden Bilanz ziehen: »Als unsere Partei im November 1914 die Losung aufstellte: ›Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg‹, in den Krieg der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, für den Sozialismus, da wurde diese Losung von den Sozialpatrioten mit Feindseligkeit und boshaften Spötteleien und von den Sozialdemokraten des ›Zentrums‹ mit ungläubig skeptischem, charakterlos abwartendem Schweigen aufgenommen. […] Jetzt, nach dem März 1917, sieht nur ein Blinder nicht, dass diese Losung richtig ist. Die Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg fängt an, Tatsache zu werden. Es lebe die beginnende proletarische Revolution in Europa!«

Trotz der blutigen Niederschlagungen all dieser Revolten und Revolutionen in Europa und der Degeneration der isoliert gebliebenen russischen Revolution hin zur stalinistischen Terrorherrschaft des »Sozialismus in einem Lande« hatte sich das Konzept des revolutionären Defätismus also in Bezug auf die Beendigung des Krieges und den Aufbau einer erneuerten sozialistischen Bewegung bewährt. Dass es dennoch in Vergessenheit geriet oder zur Phrase verkam, was im Resultat das Gleiche ist, lag zunächst daran, dass im kaum zwei Jahrzehnte später folgenden nächsten Weltkrieg die unfassbare Barbarei des Nationalsozialismus die Wahl einer Seite in diesem ebenfalls imperialistischen Krieg auch für die meisten Linken nahe legte. Angesichts der aktuellen Bedrohungen durch einen neuerlichen Weltkrieg aber – der russische Überfall auf die Ukraine, in dessen Folge sich zunehmend ein Stellvertreterkrieg der Nato gegen Russland entwickelt, und die Spannungen zwischen dem Westen und China könnten einen Prolog dessen darstellen – könnte sich eine Wiederaneignung durchaus lohnen. Es spricht jedenfalls derzeit alles dafür, dass die wenigen Sozialist*innen nicht etwa besser, sondern viel schlechter auf die kommenden Verwerfungen vorbereitet sein dürften als ihre Ahnen anno 1914.

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