Übers Wetter reden

Kleine Anleitung für gepflegten Small Talk

  • Olga Hohmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Vor ein paar Jahren stellte ich bei einer Ausstellungseröffnung zwei meiner langjährigen Freunde einander vor. Es war überraschend für uns alle, dass die beiden einander noch gar nicht kannten – und ich freute mich, dass sie sich endlich kennenlernten. Obwohl sie sich auf Anhieb blendend verstanden, verwickelten sie sich sofort in ein Streitgespräch. Das Thema ihres Disputs war plastische Chirurgie. Beide meiner Freunde schienen sich in der Materie gut auszukennen, und beide waren Verfechter der plastischen Chirurgie, vertraten aber unterschiedliche Herangehensweisen.

Der eine sagte, es wäre das Beste, wenn man möglichst früh anfangen würde: ein bisschen liften, ein bisschen spritzen, ein bisschen straffen, ein bisschen saugen. Aber: Unbedingt anfangen, bevor man die ersten Makel sieht. Pro forma sozusagen, ein fließender Übergang von Perfektion zu noch größerer Perfektion – die dann auch ganz »natürlich« wirkt. Der andere Freund hatte die gegenteilige Meinung: Man solle warten, bis das Unglück des Verfalls seinen Lauf genommen habe, und erst dann eingreifen – umso größer wäre dann auch die Freude über die Beseitigung des Übels. Ein bisschen so, als wenn man voller Genuss eine sehr zerknitterte Bluse bügelt – oder die wirklich schmutzigen Badezimmerfliesen mit Chlorreiniger reinigt. »Große« Eingriffe, deren Effekt man sofort spürt, verschaffen immer größere Genugtuung als kleine, fast unsichtbare Operationen.

Ich selbst hatte damals wie heute keine Position zur Frage nach plastischer Chirurgie, war aber beeindruckt und richtiggehend bezaubert davon, dass meine beiden im Alltag eher uneitel wirkenden Freunde so genau über das Thema Bescheid wussten und ihre jeweilige Position mit derartiger Verve verteidigten. Auch die Tatsache, dass sie sich überhaupt enthusiastisch auf ein Streitgespräch über ein so »unwichtiges« Thema einließen, gefiel mir außerordentlich gut. Die beiden nahmen damit die Verantwortung für eine lebendige Konversation auf sich: eine Eigenschaft, die ich an Menschen sehr schätze.

Tatsächlich gab es in der Frage nach Gesprächsthemen zwischen Menschen, die sich noch nicht so gut kennen, in den letzten Jahren eine große Veränderung. Das Wetter war ja jahrhundertelang (so kommt es mir zumindest vor) das Small-Talk-Topic per se. Das hatte wohl damit zu tun, dass es sich dabei um einen Gegenstand handelt, der uns alle betrifft, der aber gleichzeitig unverfänglich war. Dass über das Wetter zu sprechen nun schon eine Zeit lang eher ein Downer ist (außer man genießt eine gewisse Form der Lustangst und verstrickt sich gerne in die tragische Dimension von apokalyptischen Fantasien), hat eine Lücke gerissen. 

Worüber spricht man also mit Fremden? Über das Humboldt-Forum? Da scheinen sich zumindest alle einig zu sein; es setzt allerdings eine Bereitschaft für den Genuss des gemeinsamen Hasses voraus.

Tatsächlich habe ich es nun häufiger meinen beiden langjährigen Freunden nachgemacht und eine Dinnerrunde in ein längeres Gespräch über plastische Chirurgie verwickelt – ein Thema, das uns alle, die wir (man glaubt es kaum) ja tatsächlich älter werden, irgendwie betrifft. Augenlidlifting zur Beseitigung der Schlupflider? Fadenlifting zur Vermeidung des Doppelkinns? Botox gegen die Stirnfalten? Eigenbluttherapie gegen geweitete Poren? Oder, mein persönlicher Favorit: einfach ein bisschen Fett absaugen statt Sport. Und dann gibt es, schockierenderweise, ja immer noch mindestens eine Person am Tisch, die gänzlich gegen plastische Chirurgie ist (außer, es handelt sich um die Therapie von Brandnarben etc.). Das Thema funktioniert also mit einer gewissen Zuverlässigkeit als Small-Talk-Gegenstand.

Allerdings gibt es ein einziges Thema, das immer wieder auftaucht, mittlerweile eigentlich in fast jedem Gespräch – ich halte es für das „neue Wetter»: unverfänglich und tatsächlich für alle interessant. Das neue Number One Small Talk Topic sind Sternzeichen. Dabei geht es natürlich nicht nur um das »normale« Sonnenzeichen, das wir alle kennen, sondern auch noch (mindestens) um den Aszendenten – und häufig auch noch um das Mondzeichen. 

Sternzeichen sind von Interesse, ob man daran glaubt oder nicht. Auch Zweiteres eignet sich wunderbar für Small Talk, ist es doch eine hervorragende Gelegenheit, über das eine Thema zu sprechen, das uns alle beschäftigt: über uns selbst. Das weitet den Gesprächsstoff natürlich ins Unendliche aus, über die eigenen Beziehungen zu anderen Menschen, beruflich oder privat, professionell oder intim – eingeschlossen alle am Tisch anwesenden. Sogar potenzielle Unstimmigkeiten im Gespräch kann man direkt mit der Theorie der Nichtkompatibilität (der Sternzeichen) erklären: Man wird also auch noch der Verantwortung enthoben, für die eigenen Affinitäten und Abneigungen einzustehen.

Es gibt natürlich auch ein voyeuristisches Moment: Denn wer weiß, ob die Allianzen, die man auf diese Weise antizipiert, sich nicht im Verlaufe des Abends und mit steigendem Alkoholpegel tatsächlich einlösen. Unter dem Blick der anderen, die es natürlich schon vorher wussten. Ich kann also nur dazu raten, in jeder Konstellation, in jeder Situation peinlichen Schweigens das Thema Sternzeichen anzubringen. Es bleibt ein unendliches Feld allgemeinen Interesses und entbehrt in all seiner Ambiguität doch der tragischen Dimension des Wetters: Denn im Gegensatz zum Klimawandel gibt es hier immer ein legitimes antagonistisches Argument, einen plausiblen Gegenbeweis.

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